21.07.2010: Frühaufstehen zum Fresko

“Es ist überraschend, wie demokratisch Kinder (etwa im Alter ab 12 Jahren) miteinander Spielregeln abklären und eine gemeinsam akzeptierte Linie finden. So gehen Erwachsene niemals vor, wenn es gilt, die Regeln für das soziale (und politische und wirtschaftliche) Miteinander festzulegen und zu praktizieren.”
(Sinngemäß aus einem französischen Buch über Psychologie des Spiels der Kinder)
Warum verlieren die Menschen beim Erwachsen-Werden diese zweifellos angeborene demokratische und soziale Grundeinstellung? Sind das alles Nicht-Spieler? Oder sind es etwa gerade die Spielernaturen, die später unsozial bis kriminell nach ihren eigenen Regeln leben?
1. “Die Speicherstadt”
Nach der vorläufigen Auszähung zu unserem nächsten “Spiel des Monats” gekürt, wollten Peter und Loredana “Die Speicherstadt” unbedingt kennenlernen. Vor allem auch, wie es sich in einer Fünfer-Runde spielt.
Mit unseren Pöppeln bewerben wir uns um ausliegende Karten, die Lieferaufträge darstellen, oder Schiffsladungen mit Waren, oder sonstige Schmankerl für Siegpunkte wie Lagerhäuser, Kontore und Warenumschag. Es reicht aber nicht allein, einen oder sogar mehrere Pöppel an die gewünschten Karte zu plazieren, man muß die Karten hinterher auch noch bezahlen können. Je mehr Pöppel zu einer Karte geschickt wurden, desto teuer sind sie. Je mehr Pöppel hinterher auf den teurern Kauf verzichten, desto billiger wird sie wieder. Dieser sehr hübsch und klug ausgedachte Mechanismus ist das spielerische Herzstück der „Speicherstadt“.
Günther und Walter rissen sich um die Feuerwehrleute, die einen erheblichen Bonus bringen, wenn man die meisten davon hat, und die einen erheblichen Malus bringen, wenn man die wenigsten hat. Am zweitmeisten zu haben bringt genausoviel ein, wie am zweitwenigsten zu haben, nämlich plus-minus Null. Also geht es in dieser Feuerwehrschlacht genau darum, die absolut meisten Feuerwehrleute auf seine Seite zu ziehen. Wenn sich aber zwei Spieler um diese Position streiten, so treiben sie die Preise hoch und graben dieser Strategie das Wasser ab.
Fast ungestört konnte sich Hans die meisten Schiffe und Loredana die meisten Kontore aneignen. Und Peter ärgerte sich darüber, daß die Feuerwehrkapitäne ihnen das Leben zu wenig schwer gemacht hatten. Inhaltlich hatte er zwar Recht, aber wenn der Kampf um die Feuerwehr erst mal entbrannt ist, gibt es halt kein Zurück mehr.
WPG-Wertung: Der bisherige Schnitt von 7,3 wurde durch die Noten von Hans: 8 („keine Strategie ist konsequent durchrechenbar, das ist gut und schlecht, aber mehr gut als schlecht.“) und Loredana: 7 (findet das Mitspielerchaos gut, außerdem ist das Spiel schnell) bestätigt. Peter dagegen fiel mit erbarmungslosen 5 Punkten ab, ihm hat das unberechenbare Mitspielerchaos heute nicht gefallen.
2. “Fresko”
Heute galt es, Walter’s Hypothese von dem nicht-ausbalancierten Startspielervorteil zu verifizieren oder zu falsifizieren. (Siehe Session-Report vom 14.7.2010.) Da das Spiel nur für maximal vier Spieler ausgerichtet ist, verzichtete der Gastgeber sogar auf das Mitspielen. Dafür durfte er seit langem mal wieder das Spiel für die Neulinge erklären. Gemäß seiner großzügigen Lebenseinstellung verzichtete er auf eine bitgenaue Regeldarlegung und erging sich in lieber in Ausflüge zu taktisch-gutem Spiel. „Eine gute Startspielerstrategie ist unerläßlich für den Sieg! Deshalb so lange wie möglich den Siegpunkt-Erwerb zurückstellen!“ Ist diese Information nicht sehr viel wichtiger als gleich zu Beginn des Spieles zu wissen, daß der Bischof immer auf das Feld des aktuell fertiggestellten Freskos kommen? Oder daß man für seine Portrait-Pöppel maximal eine Sonderkarte nehmen darf, alle anderen Pöppel sich aber mit dem 3-Taler-Bonus begnügen müssen? Peter echauffierte sich über die nachgeschobenen Regeldetails: „Ich werde dich nie wieder erklären lassen!“ Der Prophet gilt halt nichts im eigenen Lande!
Günther hielt sich bewußt im Hintergrund und sammelte Farbtopf auf Farbtopf in seine Scheunen. Dann flog ihm unvermutete ein 17-Punkte-Plättchen wie eine gebratene Taube im Schlaraffenland um den Mund. Konnte er sich da noch länger zurückhalten. „Will ich jetzt tatsächlich so weit vorrutschen?“ Er rutschte und gab ab diesem Zeitpunkt die konsequente Startspielerstrategie auf. „Das Wichtigste ist, flexibel auf die gebotenen Gelegenheiten zu reagieren.“
Peter brüstete sich mit seiner Anti-Startspieler-Strategie. Doch seine Position war keineswegs herausragend. „Noch stehen wir alle zusammen!“ stellte Günther klar. Nur Loredana protestierte. Mit Recht. Fast bis zur letzten Runde lag sie mit deutlichem Vorsprung vorne. Sie hatte sich leichtfertig und leichtfüßig an die Spitze geschwommen und litt nur virtuell und dem 6 Uhr früh Aufstehen-Müssen, das ihr als Führender oft genug zugeschustert wurde. Offensichtlich ist ihre weiblicher Intuition das Pendant zur benötigten Flexibilität.
Und Walters These über die mangelnde Spiel-Balance ist eindeutig widerlegt. Es gibt zu viele andere Möglichkeiten, seine Köcher mit Pfeilen zu stopfen, so daß der goldene Schuß in der letzten Runde gewiß nicht den Ausschlag gibt. Hier ließ sich Günther mit einer ganzen Batterie an gemischten Farbtöpfen sogar noch einen dicken Fisch entgehen, von dem er fälschlich gehofft hatte, daß kein anderer die benötigte Farbkombination aufweise. Als Hans ihm den Fisch vor der Nase weggeschnappt hatte, unterstrich er mit „Jetzt spieler ich halt anders“ erneut seine Flexibilität. Er trug seine reichlichen Restfarben zum Altar und machte sich mit Erfahrung und Geschick an den Siegpunkt-Tausch über das Loser-Tableau. Seine dortigen Tränen wurden mit dem Sieg entlohnt. Nicht auszumalen, welchen Vorsprung er gehabt hätte, wenn auch noch seine Vorhaben mit der Startspielerposition alle geglückt wären.
WPG-Wertung: Hans: 8 („vorerst mal, mit Tendenz zu mehr. Das Spiel hat viele überraschende Wendungen“), Loredana: 10 (!), Peter: 9 („Bestes Spiel seit langem! Und so etwas hat Deutschland!“), Walter: 8 (früher 6; die Vielfalt der möglichen Spielalternativen hat überzeugt.)
Bemerkenswert: Walters Verzicht auf das Mitspielen wurde durch den Genuß eines platonischen Zuschauens voll ausgeglichen. Er fühlte sich keineswegs ausgestoßen, sondern war bei allen Aktionen seiner Gastspieler stets mit Lust und Liebe dabei. Zwei ganze Stunden lang. So etwas könnte ihm bei „1830“ niemals passieren. Was sagt das jetzt über „1830“ aus? Oder über „Fresko“? Oder über Walter?
3. “Bluff”
Nein, heute kein Absacker mehr. Peter und Loredana verließen schon weit vor der vorletzten U-Bahn das Lokal und die Runde löste sich auf.