von Walter Sorger
Die Geschmäcker hier hienieden sind verschieden. Was Spiele betrifft gehen die Differenzen sogar mitten durch unsere, von Interesse und Spiel-Auffassung doch ziemlich homogene WPG-Gruppe. Es gibt eine eingeschworene 18xx-Fraktion, die alles stehen und liegen läßt, wenn ein Spiel dieser Serie angesagt ist. Und es gibt ein paar individuelle Geister, die immer wieder fassungslos vor den hohen Noten stehen, die wir für diese Art von Spielen vergeben.
Warum ist "1830" für mich das Non-Plus-Ultra? Zur Antwort will ich nur ein paar wenige Eigenschaften herausstreichen. Die Kriterien sind abstrakt. Jeder Autor, Kritiker oder Leser, der eine Zielgruppe wie die WPG im Auge hat, kann seine eigenen Ideale mit diesen Qualitätsmerkmalen vergleichen.
Handlungsfreiheit ist mein oberstes Qualitätskriterium. Ein Spiel, mit dem man gerade mal eine Karten aus der Hand spielen oder gerade mal 1-2 Pöppel vorwärts ziehen kann, wird für mich nie über unteren Durchschnitt hinauskommen. In "1830" kann man Kaufen und verkaufen, kreativ Bauen (welche Auswahl!). Engpässe an Ressourcen vermeiden oder bewußt herbeiführen, Kooperation oder Gegnerschaft eingehen, Nibelungentreue oder Verrat praktizieren; alles das sind ganz selbstverständliche und erfolgreiche Grundelemente des Spielablaufs, zusammengeschweißt zu einer natürlichen Einheit an Thema und Interpretation.
Für mich bedeutet WENIGER Komplexität ein mehr Qualität. Ich mag nicht hunderttausend verschiedene Einzeleigenschaften auswendig lernen zu müssen, um ein Spiel zu beherrschen. In "1830" gibt es Aktien, die man kaufen und verkaufen kann, es gibt Schienenteile, die man legen oder auswechseln kann und es gibt Züge, die man fahren lassen kann. Das ist alles. Gott-sei-Dank!
Ich möchte einen Spielablauf in seiner Gesamtheit erkennen und aktiv gestalten können. Bei "1830" ist allen Beteiligten von vorneherein ganz klar, was geschehen wird: Die Eisenbahn-Gesellschaften werden sich entwickeln, einige Linien und Zentren werden dominieren, ich muß danach streben, an den Brennpunkten beteiligt zu sein und ein paar wichtige Fäden in die Hand zu bekommen. Die Rolle, die jeder dabei spielt, ob er im Spielfluß Gas gibt oder bremst, liegt ganz in seiner Hand. Und natürlich in der Hand seiner Konkurrenten. Aber nirgendwo sonst!
Wir wissen wohl alle, was darunter gemeint ist. Wenn ein Spiel von mir Berechenbarkeit erwartet, dann darf es mich nicht dem Chaos ausliefern. Wenn Kampf angesagt ist, dann zählen Wölfe und nicht die Schafe. Wenn der Zufall eine bedeutende Rolle spielt, dann muß es flott gehen und es bedarf eines natürlichen Korrektivs gegen Glücks- oder Pechsträhnen. "1830" ist diesbezüglich ohne Fehl und Tadel. Zufälle gibt es überhaupt nicht und Ungereimtheiten genauso wenig. Alles baut auf dem Plan auf, den ein jeder für sich verfolgt. Enttäuschungen, ein Strich durch die Rechnung sind immer selbst verursacht, entweder durch Denkfehler und durch das Übersehen von scharf-kalkulierten Aktionen der Gegner. Und das ist auch gut so!
Ärgerlich ist ein Spiel, das vorzeitig - warum auch immer - entschieden ist, und bei dem es im letzten Drittel nicht mehr um den Sieger, sondern nur noch um die Höhe des Sieges geht. Bei "1830" ändern die Besitzstände ständig ihre Wertigkeit. Was gerade noch hoch lukrativ war, kann im nächsten Augenblick schon auf den Konkurs zusteuern. Manchmal überraschend, post mortem wären die dunklen Vorzeichen aber immer erkennbar gewesen.
Pro Runde steigen progressiv die Umsätze. Wer am Anfang in Rückstand gerät, hat allein schon deswegen durch gutes Mittelspiel noch Chancen auf den Sieg. Der Führende ist ständig gefordert, die gegebene Spielsituation mit Umsicht zu meistern, wenn er die Spitzenposition behaupten will.
Andererseits wird ein guter Spielstand auch nicht durch irgendwelche Ereigniskarten, Schicksalsschläge oder sonstige unberechenbare Widrigkeiten ins Gegenteil verkehrt. Wer im gesamten Verlauf des Spieles am besten spielt, darf seine Führung auch sicher bis ins Ziel tragen. Das Gleichgewicht zwischen der Erhaltung des Besitzstandes und der Gefährdung desselben durch gutes Gegenspiel: in welchem anderen Spiel ist dieses wichtige Gleichgewicht besser realisiert?
Konstruktive Schadenfreude ist ein sehr positives Spielelement. Nicht daß jemand einen schlechten Würfelwurf hinlegt, nicht daß jemand eine Risiko-Entscheidung verliert, sondern daß ein Spitzenspieler einen entscheidenden Winkelzug seiner Gegner übersehen kann und als Folge davon gravierende Einbrüche in Kauf nehmen muß, das hält die Spannung aufrecht (und fördert Spaß und Lust aller Beteiligten). Daß bei "1830" solche Verluste an der Tageordnung sind, macht einen der vielen konstruktiven Charakterzüge des Spieles aus.
Ich möchte "1830" jetzt ein paar anderen Brettspielen zum Vergleich gegenüberstellen. Alles sind weit überdurchschnittlich gute Spiele, denen es als Ehre gereicht, hier erwähnt zu werden. Kein Autor sollte sich auf den Schlips getreten fühlen, wenn er nur den zweitbesten Platz zugewiesen bekommt. Es sind meine persönlichen Präferenzen. Die Unterschiede will ich anhand von guten und sehr guten Küchen in Deutschland veranschaulichen.
Entspricht einem Abendessen beim Winkler in Aschau: Abendfüllendes Programm, bei dem alles stimmt, vom Ambiente über die Einleitung bis zum Kick auf dem Höhepunkt. Und bis zur Abrechung am Schluß.
Sei es nun die Schwarzwaldstube Traube-Tonbach oder das alte Aubergine in München. Ich will niemanden von den Meisterköchen in die Pfanne hauen. Die Spiele der 18xx-Serie sind alle ein Hochgenuß, meisterhafte Erzeugnisse einer hohen Schule. Mal reichhaltiger in der Zusammenstellung, mal auf eine kleine, feine Genießerschar eingestellt. Einfach aus liebgewonnener Tradition steht 1830 für mich an der Spitze.
Canapee aus dem Hause Dallmayr. Vielfalt auf kleinstem Raum, ausgezeichneter Geschmack. Man kann sich ein Leben lang davon ernähren. Sogar ausschließlich. Aber selbst mit einem guten Burgunder wird daraus kein richtiges Gelage.
Mittagsmenü in einem südfranzösischen Landgasthaus: in der Regel ist ein Gourmet-Erlebnis angesagt. Doch das tatsächliche Ergebnis hängt sehr stark von der Laune der Madam de Cuisine ab; sprich: Fortuna entscheidet für mich, ob es wirklich gelungen ist.
Eine Lasagne aus der Hobbyküche meines Sohnes (Student): Mit sehr viel Erfahrung und Liebe zubereitet und immer wieder mal mit neuen Gewürzen passend abgeschmeckt. Vorzüglich in seiner Klasse. Noch fehlt ein Funken Genialität für den Stern zur Note 1.
Wiener Schnitzel: hochwertiges Kalbfleisch mit feinster Pannade und einer frischen Zitronenscheibe. Für manche Mitbürger (z.B. für meine Ungarin) ein Nationalgericht. Für mich in der Summe etwas zu trocken.
Japanischer Kugelfisch (so stell ich ihn mir wenigstens vor), ein Kitzel für den Gaumen. Allzuleicht kann daraus ein tödlicher Genuß werden.
Unser Grieche um die Ecke, immer einladende Atmosphäre, immer appetitliches, schmackhaftes Angebot. Aber irgendwie sträubt sich die Feder, für Lamm-Koteletts mit Tzatziki und Bauernsalat den Ausdruck "Hohe Küche" zu gebrauchen.
Siemens Werkskantine: Bekanntermaßen eine Einrichtung gehobener Qualität: solide handwerkliche Arbeit, sauber und ordentlich serviert. Naturgemäß liegt ein gewichtiger Schwerpunkt auf Durchsatz und Geschwindigkeit.
Mariniertes Schweinefilet auf Rhabarber nach Art von Jamie Oliver. Bunt und bemerkenswert. Wenige Zutaten gekonnt zusammengestellt und mühelos auf den Tisch gebracht. Für meine Vorlieben leider eine ganze Generation zu jung.
Schuhbeck's am Platzl: vom zerhackten Würstchen in Sahnesud als Amuse Geule bis zur Bayrisch Creme eine bemerkenswerte Kombination von gewollt bodenständiger Tradition mit gekonnt internationaler Moderne. Ich habe meine Geschmacksnerven noch nicht genügend umerzogen, um die angebotene Richtung in meinem Weltbild einordnen zu können.
Abschlußgericht vom Kochkurs für Fortgeschrittene in der Volkshochschule. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Wir haben alle daran mitgewirkt und die Geheimnisse von Rezept und Zutaten entschlüsselt. Das geht unweigerlich auf Kosten von Überraschung und Spontaneität.
Es muß nicht immer Kaviar sein. Aber wenn ich mir ein abendfüllendes Menu wünsche, auf dessen Gestaltung ich Einfluß nehmen kann, das meine Geschmacks- und Magen-Nerven kitzelt ohne mich zu überfüttern, dann gehe ich - zu "1830".
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