Walters und Hans' Chaostheorie

Ein Gedankenaustausch


Hallo Hans,

habe gerade Deinen sehr ausführlichen Steam-Report gelesen. Gefällt mir sehr gut. Zeigt auch, welch verschiedene taktische Phasen und Varianten das Spiel besitzt. Auch wenn eine gewisse 6-Personen-Chaotik nicht ignoriert werden kann, bietet das Spiel sehr vielseitige Gewinn-Strategien. Du hast sie sehr klar herausgearbeitet. Ob die eigene gewählte Strategie dann auch wirklich zum Sieg reicht, entscheiden natürlich die anderen Spieler mit.

Da möchte ich an Dich, den schärfsten Strategen unter uns, eine Sachfrage stellen. Muss ein 6 (5, 4) -Personen-Strategie-Spiel, dessen Spielzüge alle frei von Zufallselementen sind, bei gleichwertigen Mitspielern nicht unweigerlich im Chaos enden, d.h. in einer Situation, wo der einzelne absolut nicht Herr der Situation ist, sondern von den anderen (mit-) gespielt wird? Ich stelle das mal als Axiom auf. Ich glaube, das lässt sich logisch-mathematisch beweisen. Z.B. in dem man die gegenteilige Annahme zum Widerspruch führt.

Das ist das Problem bei unseren ausgereiften Strategie-Spielen, die leicht verkannt werden. Oder was meinst Du dazu?

Dein Walter



Hallo Walter,

eine interessante und reizvolle Frage wirfst Du da auf ! Ich bin zwar kein Experte in der Spieltheorie (im mathematischen Sinne), aber ich denke, dass es nicht sehr schwer sei dürfte, ein Strategiespiel für n Personen zu konstruieren, das nicht im Chaos endet, wenn jeder optimal spielt. Allerdings müsste Interaktion zwischen den Spielern verboten sein, d.h. jeder Spielzug dürfte sich ausschließlich nach der Beurteilung der vorliegenden Situation richten und müsste von der Einschätzung der Aktionen der Mitspieler unabhängig sein, entweder weil diese anhand bekannter Verhaltensmuster berechnet werden oder weil Entscheidungen nicht gleichzeitig fallen.

Andererseits gibt es bereits 2-Personen-Spiele, die auf jeden Fall im Chaos enden, noch dazu genau dann, wenn beide eine optimale Strategie verfolgen - aber ein unauflösbarer Widerspruch in den Entscheidungsmöglichkeiten besteht (Gefangenendilemma). Meine Vermutung geht dahin, dass die Spielerzahl im mathematischen Sinne nicht entscheidend ist.

Ich denke, dass biologische Geschehnisse eine gute Parallele für Spiele mit vielen Personen abgeben. Die Teilnehmer (= Lebewesen) haben keinen Überblick, können aber ihre eigenen Präferenzen formulieren. Dazu stellen sie ein einfaches Modell des Spieles auf, damit sie ihre Handlungen so wählen können, dass sie sich dem Ziel, das sie haben, ihrer Ansicht nach nähern. In der Biologie findet man, dass bei festen äußeren Bedingungen (= Spielregeln) Ausdifferenzierung von Arten (= Spielstrategien) stattfindet, fortschreitende Anpassung an die Bedingungen und an die anderen Spielteilnehmer (= Spielregeln ausnutzen, Spielrunde gut kennen, Reaktionen der anderen vorhersagen). Vergleiche das mit dem Schachspiel! Seit Tausenden von Jahren wird es weiterentwickelt, und immer wieder mutieren die vorhandenen Arten (= Strategien), worauf sich die Kräfteverhältnisse zwischen ihnen verschieben. (Gibt es eigentlich Mehrpersonen-Strategiespiele, die seit Jahrhunderten oder -tausenden existieren?) Es gab schon den Versuch, ein n-Personen Strategiespiel zu simulieren. Es stellte sich unter anderem heraus, dass die optimale Strategie nicht in Reinform existieren kann, sondern dass suboptimale Strategien überleben, sozusagen als Parasiten.

Langer Rede kurzer Sinn: da wir als Spieler uns jedes Mal von Neuem in der Anfangsphase befinden, verglichen mit der Zeit, die nötig wäre, um unsere Strategien so zu optimieren, dass wir auf Gesetzmäßigkeiten im Spielablauf stoßen, die das Chaos auf fast Null zurückdrängen, werden Spiele mit vielen Personen chaotisch sein - aber nicht aus prinzipieller Notwendigkeit, sondern weil die Spiellandschaft für uns zu kompliziert ist, um ganz überschaut zu werden, und weil wir die Rückkopplung der Strategien der Mitspieler nicht lange genug betreiben.

Selbstverständlich ist eine einfache Spiellandschaft mit wenigen Spielern leichter zu durchschauen, so dass jeder die Befriedigung erfahren kann, Experte zu sein. Eine komplizierte Spiellandschaft muss einen inneren Reiz bieten, sie zu erforschen, damit man den Frust, nicht genug zu wissen, erträgt, ihn sogar als Ansporn begreift. Trickserei ist's, wenn Spiele Komplexität durch viel Brimborium vortäuschen; Betrug ist's, wenn das Würfelglück jeden zum potentiellen Sieger macht, und die zweifelhafte Belohnung von Erfolg ohne Arbeit verteilt.

Was es außerdem gibt, sind Spiele, die inhärent chaotisch, und doch interessante Strategiespiele sind - hier wird die Unvollständigkeit des Vorauswissens auf die Spitze getrieben, und es geht darum, sich so schnell wie möglich in die Situation hineinzufinden, dabei die eigenen Optionen offen zu halten oder zu verfolgen, mit viel Gespür und wenig Berechnung. Das sind meistens Moritz' Lieblingsspiele :-) Sicher kennst Du John Cage, den Komponisten. Es gibt auch Grafiken von ihm, die ich mal ausgestellt gesehen habe. Zufällige Ästhetik! Es hat etwas für sich. Das menschliche Gehirn sieht in allem Form, und das Schönste als Kind ist es doch, Wolken zu deuten (mache ich immer noch gern). Hierin steckt auch ein möglicher Spielreiz.

Wenn ich noch lange schreibe, wird's ein Essay, und von der Ausgangsfrage bin ich somewhat weggedriftet. Ich freue mich auf Antwort!

Viele Grüße,

Hans.



Ja Hans,

Du bist da etwas weggedriftet. Worum geht es mir? Einfach darum, dass Spiele, die ich in den Spielzügen für ziemlich strategisch, also für gut halte, von Mitspielern disqualifiziert werden, weil das Spielgeschehen zu undurchsichtig abläuft. Die "Gegner" glauben dann, das Spielergebnis hängt nicht von guten Zügen ab, sondern mehr oder weniger ausschließlich von dem Können der anderen.

Jetzt ist mein mathematisches Vorgefühl, dass dies notwendigerweise so sein muss. Wenn wir ein Zufallsspiel wie Mensch-ärgere-Dich-nicht (oder auch Monopoly) spielen, dann sind die Züge im wesentlichen zufallsgesteuert, und man (nur) kann hoffen, durch einige gute Würfe der Sieger zu werden. Spielt man ein strategisches Spiel, bei dem man deutlich besser ist als die anderen, dann kennt man seine guten Züge, die eindeutig die Gewinnerstraße markieren.

Spielen wir aber mit einer einigermaßen ausgeglichen Spielkompetenz ein strategisches Spiel, dann bedeuten die eigenen "guten" Züge nicht automatisch den Sieg, weil die anderen auch gute Züge tun und einem damit entgegenarbeiten. Bei 6 Personen mit streng abwechselnder Zugfolge passiert zwischen zwei eigenen Zügen so viel, dass die Spielposition schon wieder ganz anders aussieht, wenn man wieder dran ist. Das empfinden manche (ich glaube, da gehört besonders auch der Aaron dazu), dann als "gespielt werden".

Meine Frage geht nun dahin, ob dies bei jedem strategischen Spiel mit gleichstarken Mitspielern einfach immer so sein MUSS. Entweder gibt es eine eindeutige Gewinnstrategie, d.h. der Sieger steht von vorne herein bereits fest (auch wenn das u.U. keinem bereits bekannt ist). Oder man ist einfach abhängig von den Zügen der anderen, hat demnach auch nicht sein Glück in der Hand. Und im letzten Fall entscheiden dann auch noch - mangels eindeutiger "bester" Züge - persönliche Vorlieben der Mitspieler, für welche Züge, gegen welche Mitspieler man sich entscheidet. Der unausweichliche Kingmaker-Effekt. Ist dies nicht das Schicksal eines jeden strategischen Mehrpersonenspiels?

Sogar beim Schach ist man abhängig von der Gegenstrategie des (einzigen) Gegenspielers. Da kann man sich die besten Züge ausdenken, der andere kann sie a priori durch guten Gegenzüge kontern. Demgemäss ist Schach eigentlich ein chaotisches Spiel. Man gewinnt nicht durch das eigene Können, sondern nur durch die Fehler der Mitspieler. Ist das so klar?

Dein Walter



Lieber Walter,

danke, dass Du die Frage noch einmal umschrieben hast; so, wie ich es verstehe, geht es Dir darum: gibt es Mehrpersonen-Strategiespiele (MSS), die nicht trivial sind, wo aber trotzdem gute Züge mit einer gewissen Regelmäßigkeit gute Ergebnisse hervorbringen ? Oder sind *alle* MSS in dem Sinne chaotisch, dass auch optimale Züge nie den Erfolg garantieren, da die Spielsituation sich dem eigenen Einfluss fast vollständig entzieht, wegen der Aktionen der Mitspieler?

Ein Beispiel für ein chaotisches Mehrpersonen-Strategiespiel (c-MSS) ist in meinen Augen "Vinci". Hier sind eigene gute Züge ja geradezu Vorbedingung für die Niederlage. Ähnlich aussehend, aber viel, viel besser ist z.B. "Empires of the Ancient World". Hier geht es darum, mit Militär- und Handelsfähigkeiten auf dem Wege der Eroberung oder der Wirtschaftsmacht Punkte zu sammeln. Ein gutes Merkmal dieses Spieles ist es, dass die Strategien sich selbst vorantreiben - ich will damit sagen, dass die strategischen Entscheidungen die taktischen Wahlmöglichkeiten einschränken. Das macht die Spieleraktionen in groben Zügen voraussehbar, und führt zu einem strukturierten Spielablauf, an dessen Ende ein Wettrennen auf verschiedenen Wegen steht. Interessant! Bei "1830" würde ein guter Spieler doch wohl auch mehr voraussagbar agieren, je nach Spielsituation seinen Interessen dienend, als ein unerfahrener ? Ich denke, dass ein gutes, ein nichtchaotisches MSS (n-MSS) erlauben muss, Druck auf die Mitspieler auszuüben und deren Entscheidungen durch die eigenen Züge zu beeinflussen. Wenn ein solches steuerndes Element existiert (Zugzwang), dann ist der Chaos- Faktor nicht mehr dominierend. Dann steht weder der Sieger von Anfang an fest (erkennbar oder nicht), noch ist man von den Mitspielern ganz und gar abhängig.

Nehmen wir einmal an, es verfolgten alle Mitspieler reproduzierbare rationale Ziele (z.B. die eigenen Siegchancen möglichst lange erhalten, möglichst groß machen, oder unabhängig von der Platzierung auf maximale Punkte spielen, möglichst lange überleben, möglichst viel Umsatz machen, was auch immer). Nehmen wir weiter an, die Spieler wären alle erfahren und kompetent. Dann denke ich schon, dass es nichttriviale Spiele gibt, die nicht chaotisch verlaufen. Allerdings sind das wenige, und unter den typischen Gesellschaftsspielen findet man solche kaum. Es erfordert eine Menge Arbeit von Seiten der Mitspieler, das Chaos zu reduzieren, und die meisten Spiele werden daraufhin angelegt, nicht allzu strategisch zu sein.

An unseren Spielabenden sind die obigen Annahmen im übrigen kaum erfüllt; erfahren sind fast nie alle, oft keiner, und rational sind auch selten alle.

Es bleibt die Frage, ob wir MSS systematisch zu schlecht bewerten, weil ihre Vorzüge nicht zur Geltung kommen. Ich glaube, das kann man bejahen, sofern kein anderes Element hinzukommt, das das Spiel reizvoll macht und verführt, sich mehrmals damit zu beschäftigen, dadurch dann auch besser zu kapieren. Andere, flache aber lustige Spiele werden womöglich systematisch überbewertet.

Nun wäre dazu wieder zu fragen, ob das so schlimm ist ! Ein lustiges Spiel ist ein lustiges Spiel, und wenn es rund und anregend ist, verdient es eine hohe Note. Ein tiefes Spiel, das dröge ist, solange man es nicht sehr gut beherrscht, verdient auch, dass es schlecht bewertet wird.

Einige persönliche Einschätzungen:

"Carcassonne" (mit WPG-Hausregeln, sonst ist es ja nur ein Glücksspiel) ist für mich ein Gegenbeispiel, d.h. ein überbewertetes Spiel, das eigentlich keine Spieltiefe hat, aber reizende Elemente. "Forum Romanum" halte ich für ein unterbewertetes Spiel, mit viel Tiefe, wo Zugzwangelemente sicherlich drinstecken, das aber zuwenig Anreiz bietet, sich eingehend hinein zu vertiefen. "AoS" steht für mich noch auf der Kippe, denn es kann sein, dass es möglich ist, zwingende Strategien zu finden (verfeinerte Sparstrategie, verbesserte Umsatz- Strategie, konsequente Moritzstrategie), es kann aber auch sein, dass zu viele offene Geschehnisse die Steuerbarkeit begrenzen. Da es ziemlich spartanisch aufgebaut ist, muss es schon intellektuell top sein!

Nimm "Puerto Rico" : ich finde nach wie vor, dass man dort klug und weniger klug agieren kann. Zu dritt ist es durchaus so klar, um vorausschauend zu spielen. Zu fünft dagegen kann man sich unangenehmer Zwischenfälle kaum erwehren. Trotzdem habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, dass robuste Strategien (die, die Aktionen der Mitspieler überleben) auch zu fünft möglich sind. Jedenfalls hat es eine Menge niedlicher Elemente, und das gibt ihm einen Vorschuss auf meine Toleranz.

Fazit: Zugzwang verringert Chaos. Zu viele Entscheidungs-möglichkeiten, irrationale Spieler, unerfahrene Spieler, erzeugen Chaos. Sehr wenige Spiele sind so gut durchdacht, dass sie Zugzwang erlauben, sehr wenige Spiele werden von uns WPG ausreichend beherrscht. Ein MUSS für die Unkontrollierbarkeit der Spielsituation gibt es meiner Meinung nach nicht.

Dein Hans.


P.S: Zwischen sehr, sehr guten Schachspielern gibt es manchmal nicht- chaotische Partien. Das sind Sternstunden des Schachs. Andererseits gibt es auch bei fehlerbehafteten Partien solche, wo die strategischen Elemente deutlich im Vordergrund stehen, und sei es nur für Phasen innerhalb der Partie.


Lieber Hans,

Du hast die Chaos-Frage richtig verstanden und auch ganz im dem Sinne beantwortet, wie ich es erwartet habe. Wenn man durch seine eigenen Züge einen gewissen Druck auf die Mitspieler ausüben kann, dann mildert sich der Chaos-Faktor und das Spiel wird trotz einer größeren Anzahl von Kombattanten überschaubar.

Dies ist auch ein wesentlicher Unterschied zwischen "1830" und "Age of Steam". Bei "Age" ist es innerhalb einer spiel-angemessenen Denkzeit nicht möglich auszurechnen, was die anderen Spieler vorhaben. Ohne zeitaufreibende Mitbewerberanalyse kann man nicht erkennen, wer sich jetzt um die Priorität streiten wird, wer welche Strecke bauen oder verbauen will und welches Gut einem vor der Nase wegtransportiert wird. Deshalb ist es hier unvermeidlich, dass sich die Spieler in ihren Vorhaben ins Gehege kommen. Das ganze nennen sie dann "chaotisch".

Bei "1830" dagegen weiß man immer ziemlich genau, wo die Musik spielt und was gerade angesagt ist. Es gibt nur wenige und für alle überschaubare Aktionen wie: Aktien kaufen oder verkaufen, Strecken bauen, Züge kaufen und Token legen. Man kann die wesentlichsten Abläufe der nächsten Runde immer vorausschauen.

Man wird bei 1830 mit jedem Zug auch automatisch die Aktionen der Gegner beeinflussen. Wenn ich eine neue Linie floate, dann ist jeder sofort gefragt, dabei mitzumachen oder nicht. Entsprechendes gilt für den Gleisbau, für das Züge kaufen, das Token legen und vieles andere.

Man kann in diesem Spiel auch gegen Unbilden des Schicksals oder gegen bösartige Vorhaben der anderen Tycoons vorsteuern. Wenn jemand meine tüchtig sprudelnde Linie mit hohem Gewinn verkaufen will und meinen Kurs damit in den Keller brächte, kann ich eine Ausschüttung zurückhalten. Eine liquide Linie wird ungern (und mit weniger Gewinn) verkauft. Und wenn, dann beteiligen sich sofort andere Mitspieler an den auf dem Markt liegenden günstigen Aktien einer prosperierenden Gesellschaft.

Genau solche Elemente sind der Spielalltag bei 1830, aber nicht der bei Age of Steam. Dort arbeitet jeder mehr oder weniger für sich und nur der Zufall lässt in geringer Dosis (soweit halt Güter auf dem Brett sind) ab und zu mal eine Ad-hoc-Kooperation von der Hand in den Mund entstehen.

Fazit: Nicht jedes strategische Spiel wird bei einer Mehrpersonen-Beteiligung zum Chaos. Aber wahrscheinlich sehr viele. Sehr leicht passiert das mit Spielen, die sehr viel Handlungsfreiheit besitzen und bei denen es nur sehr mühsam errechenbar ist, was für die einzelnen Spieler kurz- mittel- und langfristig die optimalsten Züge sind.

1830 ist kein solches Chaos-Spiel. Deswegen ist es auch das Markenzeichen für uns Westpark-Gamers.