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Autor Ian D. Wilson
Verlag JKLM Games
erschienen 2006
Spielerzahl 3-5
Spieldauer 4-6 Stunden
Wertung pic pic pic pic pic pic pic pic pic pic

1861

rezensiert von Walter Sorger

Die Spiele der "18xx"-Familie über die Entwicklung der Eisenbahn in den verschiedensten Teilen der Welt sind alle Juwelen an Kampf, Raffinesse, Dynamik und Interaktion. Alle Arten von Spielermentalität können sich hier austoben: Der Spekulant genießt seine Macht an der Börse, der Empire-Builder ergötzt sich beim Aufbau eines weltumspannenden Streckennetzes, und der Kaufmann schwelgt in seinen Erlösen und Umsätzen, er hat ständig seine Hände voller Geldscheine. Ein brutaler Kapitalist ist erfüllt von der Hoffnung, seine Konkurrenz in den Ruin zu treiben, ein starker Global-Player steigt selbstbewusst in diesen Kampf ein und notiert befriedigt alle Hindernisse und Gefahren, die er gemeistert hat.

Diese geballte Herausforderung an Herz und Verstand hat vor über 30 Jahren unter dem Namen "1829" das Licht der Welt erblickt; damals ging es um England und 1829 fuhren dort die ersten Eisenbahnen. Um dieses Spiel hat sich eine richtiggehende Kultgemeinde gebildet und es wurden neue Varianten entwickelt, mit denen die Spielidee und Regelwerkes auf jeweils ein anderes Land übertragen wurden. Heute gibt es weltweit über 60 verschiedene Mitglieder der 18xx-Spiele, und über zwei Millionen Einträge findet man bei Google allein zu den Stichwörtern "1829" + "Game".

Eine eigene Seite "Who's Who in the 18xx hobby and industry" listet alle Personen auf, die sich um dieses Spiel verdient gemacht haben. Ian D. Wilson, der Designer von "1861" ist noch nicht darunter, seine Spielidee ist nagelneu und erst im Oktober auf der "Spiel 2006" in Essen vorgestellt worden. Es geht um die Eisenbahnen im russischen Zarenreich. Aus seinen historischen Studien nahm der Autor die Leitidee mit, die (unschuldigen) Präsidenten von bankrotten Gesellschaften nicht vor die Hunde gehen zu lassen, sondern in den weiten Armen von Väterchen Staat weich aufzufangen.

Die wichtigsten Regelbesonderheiten von "1861"

Minor Companies

Bevor der Rummel mit den Aktien losgeht, müssen sich die Spieler erst einmal mit den "Minor Companies" herumschlagen. Diese Linien bestehen aus einem einzigen Anteil. Sie werden vom handelnden Spieler versteigert und der Auktionspreis ergibt ihr Startkapital; ansonsten leben und arbeiten sie wie wir von den üblichen 18xx-Gesellschaften gewohnt sind: Sie legen Gleise, kaufen Züge, betreiben Zugverbindungen und kassieren Fahrgeld. Jeweils 50 % der Einnahmen bekommt der Spieler, 50% behält die Gesellschaft, um damit künftige Lokomotiven finanzieren zu können.

16 solcher Gesellschaften gibt es insgesamt. Diese hohe Anzahl bringt es mit sich, dass jeder Spieler gleich von Anfang an zwei Linien erwirbt und mit ihnen das Führen von 18xx-Eisenbahngesellschaften, das Konkurrieren um Gleisstücke, die Trennung von Privat- und Firmenschatulle und den Wettlauf mit dem technischen Fortschritt üben kann.

Etwa ein Drittel der gesamten Spielzeit wird ausschließlich mit diesen Vorübungen verbracht. Anschließend verschmelzen diese Minor Companies zu den richtigen "Public Companies", doch nur wenn sie gut aus den Startlöchern gekommen sind. Verlieren sie beim Aufkommen der 4er-Züge ihren einzigen 2er-Zug, so werden sie "nationalisiert", d.h. ihr früherer Besitzer bekommt eine Entschädigung, ansonsten gelangt ihr gesamtes Hab und Gut an Gleiswerk und Bahnhöfen in die Hände der "Russische Staatsbahn".

Public Companies

Der Aufbau der "Public Companies" dominiert den Mittelteil des Spiels. Diese Gesellschaften bestehen durchwegs aus acht Anteilen zu je 10% und einem Präsidenten-Anteil zu 20%. board Sie sind in sich alle gleichwertig, besitzen keinerlei regionale Zuordnung und können an jeder Stelle der Landkarte gestartet werden. Allerdings gehen sie meist aus den Minor Companies hervor und übernehmen dann mit deren Besitz auch deren regionale Verbreitung.

Nach ihrer Gründung behält eine "Public Company" alle unverkauften eigenen Aktien im Firmentresor, bekommt aber sonst keine weiteren Finanzmittel. Da sitzt ihr pekuniärer Gürtel schon mal ganz schön eng. Um an liquide Mittel heran zu kommen, muss sie umgehend Käufer ausfindig machen. Unter Umständen darf ihr Präsident jetzt nicht fremdgehen und seine Privatmittel in lukrativen Gesellschaften der Mitspieler anlegen, sondern muss seiner eigenen Linie durch Aktienkäufe über die anfänglichen finanziellen Engpässe helfen.

Im laufenden Betrieb kommt eine "Public Company" dann sehr schnell in Fahrt. Da sie bereits den operativen Betrieb aufnimmt, wenn ausschließlich die 20%-Direktor-Aktie verkauft ist, besitzt sie normalerweise eine erheblichen Anzahl der eigenen Gesellschaftsanteile und steckt so innerhalb der Operationsrunden einen entsprechend großen Anteil des Streckenerlöses ein. Der Präsident kann problemlos jeweils 100% der Dividende ausschütten: Er selbst bekommt den maximalen Ertrag für seine Anteile und die Gesellschaft erhöht trotzdem ständig ihre Liquidität; ihr Vorrücken auf dem Aktiontableau ist ebenfalls gesichert.

Beim Verkauf von Anteilen der "Public Companies" fällt der Kurs nur dann, wenn der Präsident verkauft. Das Verkaufen von gegnerischen Aktienanteilen löst also keinen Kurssturz ein. Damit unterbleiben die taktischen (oder miesnickeligen) Manipulationen auf dem Aktienmarkt und ein braver Unternehmer wird von brutalen Spekulanten nicht klein gekriegt. Natürlich spart das auch Spielzeit. Man muss sich vor solchen Eingriffen nicht schützen, noch braucht man sich darüber Gedanken zu machen, wie man es selber anwendet. Allerdings geht hiermit auch ein Teil der Dynamik und Spannung auf dem Aktienmarkt verloren.

Darlehen

Hat eine Gesellschaft nicht genügend Eigenmittel um benötigte Lokomotiven zu kaufen, so muss der Präsident das fehlende Geld nicht aus seiner Privatkasse nachschießen, sondern die Gesellschaft darf sich von der Bank Geld leihen. Damit wird das finanzielle Risiko gleichmäßig auf alle Anteilseigener verteilt und der Präsident vor einem möglichen einseitigen Ruin bewahrt.

Betrügereien sind über die Darlehen nicht möglich. Nur die minimalsten Darlehensbeträge sind erlaubt. Sie müssen auch frühest möglich zurückgezahlt werden, d.h. immer sofort, wenn die Gesellschaft über Barmittel verfügt. Ansonsten werden pro Operationsrunde 10% Zinsen fällig.

Verstaatlichung

Geht einer "Public Company" die finanzielle Puste aus, ist z.B. gerade ihr letzter Zug dahingerostet und kann (oder will) sie keine Darlehen aufnehmen, um sich einen neuen Zug zu kaufen, so wird sie - ganz analog wie eine "Minor Company" - nationalisiert. Die alten Anteilseigner bekommen von der Bank den aktuellen Kurswert ausgezahlt, ansonsten fällt ihr gesamter Besitz an die "Russische Staatsbahn".

Auch diese Spielregel schützt die Kapitaleigner vor den katastrophalen Folgen eigener Planungsdummheiten sowie vor den gezielten bösartigen Machenschaften der Mitspieler. Geht ein Präsident in den betrügerischen Bankrott, indem er den gesamten Gesellschaftsbesitz verscherbelt und sich dann noch schnell von allen seinen Anteilen trennt, so fällt der Kurs nicht ins Uferlose und kein Miteigentümer braucht für teures Geld eine neue Diesellok zu kaufen. Die bankrotte Gesellschaft gibt einfach ihren Geist auf und die Miteigentümer bekommen vom Staat immerhin noch etwa 80% des aktuellen Wertes als Entschädigung. Verglichen mit entsprechenden schmerzlichen Vorgängen bei "1830" ist das noch das reinste Honigkuchenschlecken.

Russische Staatsbahn

Die "Russische Staatsbahn" ist das Auffangbecken für alle lahmen und kranken und verstorbenen Gesellschaften. Sie wird neutral von der Bank geführt, betreibt die geerbten Streckenverbindungen und steckt die Erlöse zu 100% in die Firmenkasse. Sie kauft neue Lokomotiven, wann immer sie dafür Geld hat und erzwingt so einen ständigen technischen Fortschritt, mit dem sie gegebenenfalls auch willensschwache Präsidenten von "Public Companies" unter Druck setzen kann.

Sobald der erste 8er-Zug verkauft ist, wird das Spielende eingeläutet. Jetzt werden noch 3 Operationsrunden absolviert, dann kommt die übliche Abrechnung und der Mitspieler mit dem meisten Kapital aus Barmitteln und Aktienwerten hat gewonnen.

Die Herausforderungen von "1861"

boardDas Faszinierende an den Spielen der 18xx-Familie ist, dass jede Partien anders verläuft, obwohl kein einziges Zufallselement darin enthalten ist. Zu groß ist die Handlungsfreiheit der Spieler, zu stark sind die Querbeziehungen innerhalb der verschiedenen Spieleraktionen, zu unbekannt und unerforscht ist der schmale Pfad der besten Entwicklung.

Trotzdem besitzt jede Spielvariante unverwechselbare charakteristische Merkmale, die es zu erkennen und zu berücksichtigen gilt. Ich habe jetzt noch keine Erfahrungswerte auf Lager, will aber anhand einiger Fragestellungen aufzeigen, in welche Richtung die Auswertungen von "1861" gehen müssten, um dieses Spiel besser in den Griff zu bekommen. Selbst wenn diese Fragen weder heute noch morgen jemals beantwortet werden, vermitteln sie doch kleinen Eindruck von der beeindruckenden Vielfalt freier Spielerentscheidungen.

All diese Rätsel sind heute selbstverständlich noch ungelöst. Selbst für grobe Ja/Nein-Entscheidungen fehlen überall praktische oder theoretische Grundlagen, von einer abgesicherten Feinjustierung der internen Zusammenhänge ganz zu schweigen. Jeder Spielabend bringt neue Erfahrungen und zugleich die Erkenntnis, dass das weite Feld der Spielentfaltung eigentlich unerschöpflich ist. Ein ganzes Spielerleben lang hält das an.

"1830" oder "1861"?

"1830" und "1861" unterscheiden sich wie die Klischees ihrer Heimatländer USA und Russland. Während die "Amerikaner" den nackten, brutalen Kapitalismus propagieren und ausleben, wo jeder Mensch dem anderen ein Wolf ist, haben die "Russen" ein soziales Netz in die Spielergemeinschaft eingezogen, das jeden auffängt, wann immer er ins Straucheln gerät; hier ist jeder Mensch dem anderen ein Schaf.

Die krassen Räuberelemente aus 1830 sind deutlich abgeschwächt. Wem es früher Spaß gemacht hat, einem Mitspieler eine ausgeplünderte Gesellschaft von die Füße zu werfen - und wem macht das keinen Spaß?! - der wird hier etwas vermissen. Doch dafür kann ein Spieler mit deutlich weniger Spielpraxis nicht so schnell in den Untergang getrieben werden. Der Konkurrenzkampf untereinander findet über Strecken und gute Gesellschaftspräsenz statt; er kennt keine Opfer, sondern nur Sieger.

Auch der Effekt von "1830", dass in den ersten Runden sich nicht jeder Spieler eine eigene Linie zulegen kann, sondern dass einige Spieler auf Gedeih und Verderb von einem a priori feindlichen Präsidenten regiert werden, ist vermieden. Es gibt genügend Linien und jeder bekommt von Anfang an eines dieser begehrten Objekte in seine Managerfinger. Alle sind gleich, nur manche sind gleicher. Allerdings entfällt damit auch die konstruktive Spannung zwischen Präsidenten und Nicht-Präsidenten, die bei "1830" vom ersten Augenblick an das Spielgeschehen belebt.

Die Versteigerung der "Minor Companies" eliminiert das einzige Zufallselement von "1830", nämlich die ausgeloste Sitzreihenfolge und damit die Asymmetrie beim ersten Zugriff auf den Aktienmarkt. Bei "1861" kann jeder Spieler bei jeder Linie mit bieten. Zusätzlich darf er sich auch noch überlegen, wie lange er freiwillig dabei bleibt. (Dass Versteigerungen gegenüber reinen Kaufaktionen allerdings mehr Zeit kosten und damit die Anfangsphase verlangsamen, steht dabei auf einem anderen Blatt.)

Zurück zur Frage: "1830" oder "1861"? Unter lauter Spielerhaien würde ich das alte "1830" vorziehen. Das schnelle Geld, die schnellen Pleiten, das ständige Suchen nach Gelegenheiten, den schärfsten Konkurrenten in die Knie zu zwingen, die ständig lauernden tödlichen Gefahren auf dem Aktienmarkt, bei der technischen Innovation und beim Streckenbau geben "1830" einen besonderen Kick. Ich war in meiner Jugend schon lange rot genug, so dass ich heute ohne moralische Skrupel die blaue Philosophie der Besserverdienenden vertreten kann. (Wenigstens im Spiel!)

Doch unter kleineren Fischen, unter Spielern mit sehr unterschiedlicher Praxis, mit deutlichen Vorlieben als Empire-Builder und mit Freude am Schalten und Walten als Unternehmer und Generaldirektor, da ist "1861" sehr viel ergiebiger. Nach einem 6-stündigen "1861"-Abend mit einem Neuling erhielt ich den Brief: "Sag allen liebe Grüße. Der letzte Spielabend war sehr schön. Zwar etwas lang aber wirklich sehr schön." Einen solchen Brief hätte es in 20 Jahren "1830" nie geben können.

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