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Auf den ersten Eindruck hin wirkt "Material World" wie noch ein Welteroberungsspiel ("Risk"-like game) mehr. Der Blick auf die Karte zeigt Rohstoffvorkommen, Siedlungszentren und Schätze, bereit, von fünf europäischen Großmächten ausgebeutet zu werden, die um die Aufteilung der Welt wetteifern. Doch Halt !
Der Igel und der Hase können sich beide Hoffnung auf den Sieg machen: je größer ein Imperium wird, desto schwieriger wird es, Siegpunkte einzufahren. Im Unterschied zu anderen Spielen mit Handicap für die mächtigen Nationen (Beispiele: Pax Britannica, Empires in Arms) kann jeder Spieler das Handicap selbst bestimmen - gleichzeitig die wichtigste strategische Festlegung in "Material World" und der größte Pluspunkt am Spielsystem, wie ich finde.
Wie funktioniert's also? Jede Großmacht hat eine genußsüchtige Bevölkerung, für die Luxusgüter aus entlegenen Weltgegenden herangeschafft (Teppiche, Kaffee, Tee, Schmuck usw.) oder daheim produziert werden (Mode, Architektur, Elite-Unis). Siegpunkte gibt es ausschließlich für die Vielfalt der erworbenen Luxusgüter.
Wer zuerst ein Gut werten kann, erhält drei Siegpunkte, wer zuerst zwei (verschiedene) Güter werten kann, erhält drei Siegpunkte, wer zuerst drei (verschiedene) Güter werten kann, erhält drei Siegpunkte usw. (Platz zwei und drei liefern jeweils zwei und einen Siegpunkt, die anderen gehen leer aus). Das Spiel endet, wenn ein bestimmte Vielzahl von einem Spieler erreicht wird (laut Spielregel empfohlen: sechs, wir verkürzten auf fünf).
Die Bevölkerung macht aber auch die ganze Arbeit für die Ausdehnung des Reichs (Schiffbau, Eisenbahnen, Militär, technologischer Fortschritt). Jeder Spieler hat jede Runde nur eine Aktion pro Siedlungszentrum - also braucht man viele davon. Je mehr Aktionen, desto schneller erschließt man die Welt.
Der Haken dabei: damit ein Luxusgut Siegpunkte einbringt, muß ein Vorrat angelegt werden, der genau so groß ist wie die Anzahl der Siedlungszentren ( Bevölkerung 5: 5 Teppiche, Bevölkerung 2: 2 Teppiche ) - und das für jedes Gut! Zu dumm, wenn man ein neues Gut erschlossen hat und dann fünf Runden lang sammeln muß, bis die Bevölkerung zufrieden ist.
Die reine Igel-Strategie kommt mit zwei Siedlungszentren aus und macht am Anfang des Spiels sehr schnell Punkte. Das Rohstoffeinkommen deckt nur den allernötigsten Bedarf, Luxusgüter werden mit den wenigen Aktionen, die man hat, bevorzugt erschlossen. Später schaut man eventuell nur noch zu, gewinnt aber womöglich das Spiel - Letzter wird man keinesfalls!
Die reine Hasen-Strategie baut die Bevölkerung rasch aus und sorgt für ein hohes Rohstoffeinkommen, das sofort in weiteres Wachstum reinvestiert wird. Irgendwann kommt der Punkt, wo auf Konsum umgeschaltet werden muß, um gegen Ende des Spiels die Igel noch zu überholen. Der Adrenalinspiegel ist hoch, und man kann ohne weiteres mit einem Riesenimperium Letzter werden.
Die fünf Nationen (Rußland, Deutschland, Osmanen, Frankreich, England) unterscheiden sich in Start- und Entwicklungsbedingungen. Am schwierigsten sind wohl Rußland und England zu spielen. Normalerweise sind diese beiden aber in der Zugreihenfolge vorn, was ein sehr großer Vorteil ist, denn bei kompetentem Spiel aller ist das Rennen um die Siegpunkte immer äußerst knapp.
Die Hasenstrategie braucht von den vier Rohstoffsorten vor allem Holz, um schnell Transportkapazität aufzubauen. Weizen ist unbedingt notwendig, um die Siedlungszentren arbeitsfähig zu halten, läßt sich aber im Allgemeinen beschaffen (nur Rußland hat hier Anfangsschwierigkeiten). Baumwolle erlaubt das Produzieren von Konsumgütern und macht oft den entscheidenden Punkt. Öl braucht man für starke Militäreinheiten. Zu Anfang unnötig, gewinnt es bei Auseinandersetzungen im späteren Spiel an Bedeutung.
Die Igelstrategie kann Weizen und Baumwolle gut gebrauchen. "Home, sweet Home", lieber ein selbst produziertes Konsumgut werten als sich mit den Großen um den Tee Asiens zu balgen. Allerdings kann der Igel mit etwas mehr Holz "vor der Hütten" eine sehr nette Mischstrategie fahren, die ich für ganz erfolgversprechend halte.
In unserer Runde machte Aaron (England) anfangs "den Igel" und zog schnell in Front. Später verließ er aufgrund eines Regelmißverständnisses die reine Linie (vermehrte die Siedlungszentren) und verlor an Tempo. Walter (Rußland) spielte auf die mittlere Größe, war aber durch das unwegsame Sibirien in seinen Entwicklungsmöglichkeiten eingeschränkt. Sebastian (Frankreich) hatte viele Rohstoffe auf dem Konto, aber wenig verschiedene Luxusgüter. Moritz (Deutschland) machte konsequent "den Hasen" und verdrängte Rußland ebenso wie England von manchem Fleischtopf. Am Schluß kam das Spielende für ihn zu früh! Hans (Osmanen) hatte zu lange zu wenig Konkurrenz bei seiner Ausdehnung Richtung Ostafrika und Indien und machte Gebrauch vom Fleiß seiner Leute (Konsumgüterproduktion). Ab der Mitte des Spiels überholte er Aaron, und war am Schluß nicht mehr vor der Ziellinie zu stoppen. Bei längerem Spiel hätte es womöglich ganz anders ausgesehen!
Überraschend war, daß keiner von uns die militärische Karte spielte. Militär ist zwar nicht produktiv, sondern kostet Rohstoffe und Aktionen, wer aber zuerst die Handelswege der anderen bedroht, dürfte einiges an Bremswirkung erzielen (Aufwand für Schutzmaßnahmen), bei relativ kleinem eigenem Einsatz.
Nach dem Spiel war die Diskussion sehr angeregt. Die strategischen Aspekte überwiegen, machen das Spiel interessant. Ein kleines Versäumnis bei der Umsetzung kann einen Spieler allerdings zurückwerfen und die Chancen dauerhaft schmälern. Das stachelte den Wunsch nach einer Revanche an! Wir vermuteten alle, das das Spiel Facetten bereithält, die wir bisher nicht gesehen haben, und sind sehr gespannt auf einen zweiten Abend damit.
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©2004, Hans Frey