Eine knifflige Frage zum Spielen aber nicht zum Brettspielen: Wie lernt ein Dirigent seine Partitur auswendig? Ein Exbläser und Freund meiner Frau, der selbst noch unter Furtwängler gedient hat, hat dieser Tage behauptet, daß diese Korniferen das Einstudieren eines Orchesterwerkes über das Nachspielen per Klavier machen. Das kann doch wohl nicht sein, daß ein Klavierauszug alle hunderttausend Stimmen eines Orchesters aufzeigt. Moritz mußte hier Licht ins Dunkel bringen.
Erste Aussage: Auswendig Dirigieren ist ausschließlich eine Show fürs Publikum. Besser wird die Aufführung dabei nicht. Ganz im Gegenteil, wenn was schiefläuft – und nach Moritz’ Erfahrung läuft fast immer was schief – dann kann der Dirigent mit der Partitur viel eher das entstehende Malheur noch entschärfen. Vielleicht merken wir Laien das aber ohnehin nicht.
Zweite Aussage: Auch wenn ein Dirigent ganz souverän auswendig dirigiert und sichtbar viele Einsätze in vielen Richtungen vorgibt, so übersieht er dennoch dabei einen erheblichen Teil der Einsätze in den verschiedenen Teilen eines Orchesters. Normale Musiker tuten auch ohne expliziten Wink ins richtige Horn.
Dritte Aussage: Barockstücke, die eine konstante Motorik und eine lineare Phrasierung aufweisen, klingen ohne Dirigent oftmals besser als mit! Erst ab der komplizierten Dynamik von Beethoven und folgende sind Dirigenten erst wirklich gefragt.
Vierte Aussage: Früher war es vielleicht tatsächlich mal üblich, daß sich ein Dirigent mit dem Klavier über die Partitur- nicht über den Klavierauszug – hergemacht hat und Stimme um Stimme, Einsatz um Einsatz, Akt um Akt einstudiert hat. Besonders geniale oder visuell begabte Dirigenten konnten sich ein Werk allerdings auch schon damals ohne Instrument, sondern mit den bloßen Augen aus der Notenschrift erarbeiten.
Fünfte Aussage: In unserer heutigen, schnellebigen Zeit geben sich manche Dirigenten auch damit zufrieden, zum Kennenlernen ein Stück mehrfach auf CD anzuhören.
Christian Tielemann hat gerade bekannt, daß er Bayreuth auch deswegen so schätzt, weil man da dem Publikum nicht mit Auswendig-Dirigieren imponieren muß. Weil man den Dirigenten im tiefen Wagnergraben ohnehin nicht sieht, kann er es sich leisten, die Partitur vor sich lieben zu haben.
Warum muß ein Dirigent eigentlich durch Auswendig-Dirigieren imponieren? Es reicht doch, wenn er das Orchester beherrscht, oder?
1. “Fury of Dracula”
Ohne Widerspruch tischte Moritz einen “Klassiker” auf. Schon im letzten Jahrtausend erschienen, dann lange Zeit vergriffen, brachte es “Fury of Dracula” bei Ebay auf Preise von “Hunderten von Dollars”, bis er im Jahre 2005 von Fantasy Flight Games neu herausgebracht wurde. Das Spiel ist kooperativ. Wie bei “Scotland Yard” kämpfen 4 Jäger gegen den bösen schwarzen Mann, müssen ihn innerhalb der gesamten Geographie von Europa suchen und finden und ihm im Zweikampf den Garaus machen.
Jeder Jäger besitzt Spezialeigenschaften, die ihm beim Töten oder beim Überleben behilflich sind. Hans war unsere Lady, die von Haus aus bereits einmal gebissen war und beim nächsten Biß in die Transsylvanischen Jagdgründe verschwinden mußte. Walter war der edle Von-Helsing, nach Moritz der “geilste Stecher” unter den Jägern, doch ausgerechnet unser ältester Spieler sollte in dieser Rolle seine Kompotenz beweisen.
Trotz der europäischen Szenerie ist das Spiel kein Eurogame. Die Jagd auf Dracula wird nicht durch taktisch-strategische Überlegungen gewonnen, sondern – falls das überhaupt möglich sein sollte – durch Zufall und Glück. Kartenzufall und Würfelglück! Dracula muß nicht in regelmäßigen Zeitabständen seine Position offenbaren, sondern nur dann, wenn die Jäger Ereigniskarten ziehen, die ihnen erlauben, diese siegentscheidende Information abzufragen. Allerdings muß Dracula in den besuchten Städten seine Spuren hinterlassen, so daß man auch durch diese zweite, weniger glücksabhängige Methode seine Position abschätzen kann.
Im Gegenzug dazu kann Dracula Karten ziehen, die es ihm ermöglichen, unterzutauchen und an einem gänzlich unbekannten Ort irgendwo in Europa wieder aufzutauchen. Wir hatten gerade um unseren Dracula in Belgrad einen Belagerungsring gezogen, da spielte er – ätsch – diese mächtige Karte auf und verkrümelte sich nach Liverpool. Keiner wußt, wo er jetzt zu suchen war. Bis wir wieder eine Ereigniskarte zogen, aufgrund der er seine Position wieder verraten mußte, tippelten wir alle fuß- und lendenlahm durchs Land der Skipetaren.
Im gesamten Spiel fand kein einziger Kampf der Jäger gegen Dracula statt. Entweder war Moritz – wer sonst sollte den Dracula spielen – längst über alle Berge oder er teleportierte – ebenfalls per Ereigniskarte – den findigen Jäger unverzüglich auf die andere Seite von Europa. Kampfesmutig hatte sich Aaron auf Dracula gestürzt, der sich unweigerlich in Edinburgh aufhalten mußte, doch Moritz griff in seine Spellkiste und als Aaron wieder zu sich kam, befand er sich an Siziliens Küsten und konnte friedlich und allein dem Spiel der Wellen lauschen.
Mit den Hilfssheriffs, die Dracula in allen besuchten Städten zurückläßt, gerieten wir häufiger aneinander. Dann kommt es zu Zweikämpfen und per Würfel wird ausgewürfelt, wer unterliegt und wie viele Leben er dabei verliert. Manchmal geht es auch mit Bissen und Wunden ab. Zuviele Bisse sind des Jägers Tod. Zuviele Wunden auch. Doch jeder hat mehrere Leben und schlimmstenfalls darf man sich als neugeborene Unschuld wieder ins Getümmel stürzen.
Nach einer guten halten Stunde Erklärung (ohne die Einzelheiten) und nach gut zwei Stunden Spielzeit waren wir durch. Fazit: Ein logisches induktives Spiel mit zufallsabhängigen krassen Teleportationskarten, krassen Ereigniskarten und krassen Kampfkarten. Zum letzteren kommt dann noch der Würfel hinzu.
Trotz allem war es bis zu Draculas Sieg äußerst spannend. Nicht weil die Jäger eine Chance hatten, sondern weil sie das nicht wußten. Zudem ist das Spielmaterial sehr gefällig und die Hunderte von Sondereigenschaften, Sonderkarten und Sonderbedingungen halten Aufnahmefähigkeit und Konzentration ständig in Atem.
Wie groß die Spiellust noch sein wird, wenn wir die abzählbar vielen Regeln alle begriffen und unter einen randomisierten strategischen Hut gebracht haben, das steht in den Sternen.
WPG-Wertung: Aaron: 5, Günther: 5 (nicht mein Spiel), Hans: 5, Moritz: 7 (Wiederspielwert fraglich), Walter: 4 (meines auch nicht)
2. “Zug um Zug – Europa”
Kein Peter mußte zur vorletzten U-Bahn, so konnten wir uns eine Stunde vor Mitternacht noch ein ausgewachsenes Großspiel vornehmen. “Zug um Zug”, das Spiel des Jahres von 2004, in der ein Jahr später herausgekommenen Europaszenerie. Die Geographie des Spielbrettes erinnerte sofort an die Szenerie von Draculas Raserei, doch der Spielablauf ist nahezu diametral entgegengesetzt. Es geht taktisch zu, und zügig, und planerisch, und spielerisch, und lustig, und interaktiv und konkurrierend.
Im Gegensatz zur amerikanischen Szenerie, in der das Spiel über den Bau langer Strecken mit quadratisch steigenden Siegpunkten gewonnen wird, muß man in Europa sein Heil in kleinen aber strategisch gut plazierten Schlüsselstrecken suchen. Beide Prinzipien stellen ihre eigene Herausforderung dar und haben ihren eigenen planerischen und spielerischen Reiz.
Ein verdientes Spiel des Jahres, das sowohl normalverbrauchende Familien als auch anspruchsvolle Vielspieler befriedigen kann.
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