Aaron kam eine Viertelstunde zu spät. Das Büro hatte ihn nicht weggelassen. Dabei hat morgen um 6:30 Uhr schon wieder eine Telefonkonferenz. Irgendwelche Entscheidungen sollen bis zum Mittag gefällt werden. In Indien. Lokalzeit! Da bleiben ihm heute noch 4 Stunden Schlaf. Gute Nacht! (Mal sehen, wie viele Stunden Schlaf mir heute noch bleiben, wenn dieser Bericht im Internet steht.)
1. “Middle Kingdom”
Nach Aaron sollte dieses Spiel von Tom Lehmann 30 Minuten dauern. Er trug wie immer klar und deutlich die Spielregeln vor, aber mit einer so schweren Zunge, als wäre es jetzt schon 6:30 Uhr in der Früh. So brauchten wir einschließlich der Regelerklärung immerhin eineinhalb Stunden. Ohne Hans!
Wir haben alle die gleichen Biet-Karten auf der Hand uns müssen uns damit a la “Hol’s der Geier” ausliegende Berufsgruppen ersteigern: Farmer, Nobles, Warlords, Bürokraten, Händler und Philosophen. Verdeckt zieht jeder eine Biet-Karten, alle decken sie dann gemeinsam auf: der Spieler mit der höchsten Karte darf zuerst wählen, der Spieler mit der niedrigsten Karte geht leer aus. Es sei denn, es gibt einen Tie und zwei Spieler haben die gleiche Karte gezogen: Diese bekommen dafür in dieser Runde gar nix. Das übliche psychologische Spiel um die höchste Karte, die kein anderer ausgewählt hat.
Mehrheiten in erworbenen Berufsgruppen bringen Bonuseffekte: Entweder bekommt man einen halben Punkt Bonus und kann damit jeden Tie vermeiden, oder man darf beim Bieten eine Karte nachlegen, oder man hat grundsätzlich das erste Zugriffsrecht innerhalb der ausliegenden Berufsgruppen, oder man darf sich zusätzlich eine der beim Tie übriggebliebenen Karten aneignen. Alle diese Bonusse haben sehr extreme Auswirkungen. Zu extrem! Selbst wenn das Spiel nur ganz kurz dauert, machen sie die eigentlich recht kurzweilige Versteigerungschaoslogik kaputt.
Peter bekam durch Glück oder Können ganz früh den Bonus der zusätzlichen Karte und häufte Besitztum auf Besitztum. Günther als Letzter profitierte lange von dem ersten Zugriffsrecht, doch deswegen sollte man sich wohl nicht gewollt die rote Laterne zulegen.
Sicherlich läßt es sich berechnen, welche Bonusse zu welchem Spielzeitpunkt den größten Nutzen bringen. Doch was hilft das alles, wenn der Erwerb der benötigten Karten jeder geordneten Planung entzogen ist und allein dem Tie-Zufall unterliegt.
WPG-Wertung: Aaron: 6 (sieht einen gewissen Wiederspielwert), Günther: 4 (sieht keinen), Peter: 6 (ja wenn man ständig Karten geschenkt bekommt), Walter: 3 (sieht auch keinen).
2. “Preußische Ostbahn”
Genauso wie der “Chicago Express” ist die “Preußische Ostbahn” ein Eisenbahnaktienspiel von Harry Wu, diesmal mit einer Szenerie im Deutschland des vorletzten Jahrhunderts. Wir kaufen Aktien von Eisenbahngesellschaften, bauen Streckenverbindungen und erzielen damit Einnahmen.
Trotzdem des ersten Eindrucks ist die “Preußische Ostbahn” kein 18xx-Derivat. Es gibt keine Präsidenten, keine Aktienverkäufe, keine technischen Innovationen und keinen Betrug. Alle Anteile bleiben fest in den Händen des Ersterwerbers. Jeder darf für jede Gesellschaft handeln (sofern er mindestens eine Aktie von ihr besitzt), und Ausschüttungen gibt es nur für das Herstellen neuer Städteverbindungen, nicht aber als Standardeinnahme pro Operationsrunde.
“Keep fully invested” trifft hier keineswegs zu. Nicht derjenige, mit dem höchsten Aktienbesitz ist schlußendlich der Sieger, sondern derjenige mit dem meisten Bargeld, und da die Gesellschaften in der Regel nur 1-3 mal Dividende ausschütten, kann der Erwerb einer Aktie leicht mehr kosten, als sie insgesamt einbringt.
Bemerkenswert (nach Peters Einschätzung: beklagenswert) ist die Ermittlung der Zugreihenfolge: Der Führende gibt eines seiner Klötzchen in ein Säckchen, der Zweite gibt zwei, der Dritte drei usw.; aus diesem Säckchen werden insgesamt vier Klötzchen herausgezogen und bestimmen entsprechend die Spieler, die Handeln dürfen. Wer Pech hat – und der Führende hat statistisch gesehen besonders viel Pech – von dem wird kein einziges Klötzchen gezogen und der darf in einer kompletten Runde überhaupt nicht agieren. Das mag ein Korrektiv gegen den Führenden sein, aber ein ganz schön krasses!
Ein heißer Disput entstand zwischen Peter und Walter darüber, ob ein Spieler einem anderen einen guten Ratschlag geben darf. Walter war strikt dagegen; die vielfältigen Interessenverflechtungen könnten lange kontroverse Argumentationsschlachten auslösen. Zudem versteht er nix von Diplomatie. Peter als geborener Diplomat war strikt dafür, und wollte Aaron unbedingt zu einen guten Zug überreden, von dem er selbst (natürlich) auch einiges profitiert hätte. Das Schicksal ließ den Disput gütlich enden: Peters gute Ratschläge waren mangels Liquidität gar nicht durchführbar.
Ja, ja, die Durchführbarkeit! Im Gegensatz zu den Spielen der 18xx-Reihe, wo am Ende jeder Spieler und fast jede Gesellschaft nur so im Geldsegen schwimmt, klemmt es bei der “Preußische Ostbahn” mehr oder weniger an allen Ecken und Enden: Entweder hat die Gesellschaft kein Geld um ihr Streckennetz zu erweitern, oder sie hat keine Gleise mehr, oder die dividende-trächtigen Verbindungen sind bereits alle zugebaut.
Wer im Einkommen hinten dran liegt, hat auch kein Interesse mehr, konstruktiv zu bauen, denn bei jeder Gewinnausschüttung verdienen die anderen mehr als er. Keine Motivation für die Suche nach besten Entwickungsmöglichkeiten, eher danach, die Minderheitsgesellschaften an die Wand zu fahren. Doch lustvoll ist das auch nicht.
Nach der Spielregel endet das Spiel, “wenn jede Gesellschaft an mindestens zwei anderen Gesellschaften angeschlossen ist, oder alle Spieler übereinstimmen, daß dies nicht mehr möglich ist.” Eine ziemlich hohe Anforderung an Einsicht und guten Willen der Mitspieler. Doch Günther versicherte: “Wer Winsome Spiele spielt, der sieht das auch ein!” Doch hinter solchen Regelformulierungen verbirgt sich mit Sicherheit eine Design-Schwäche.
WPG-Wertung: Aaron: 6 (Wiederspielwert – schon wieder!), Günther: 7 (die Spielschachtel läßt sich gut stapeln. [Peter: gut entsorgen!]), Peter: 2 (wurde zu selten aus dem Säckchen gezogen), Walter: 5 (die vielen Beschränkungen dämpfen die Spielfreude)
3. “Bluff”
Immer häufiger fangen wir alle schon bei vollen Würfelbechern mit der Einmal-die-4-Strategie an. Das macht auch Sinn! Wichtiger, als die Mitspieler mit hohen Vorgaben unter Druck zu setzen, ist es, nichts von seinem eigenen Wurf zu verraten, sondern rumzuhören, wie die Mitspieler sich so langsam offenbaren (oder bluffen). Eine hohe Anfangsvorgabe ist dagegen ein Alles-oder-Nichts-Vorgehen, das oft genug im Nichts endet.