Günther ist erkrankt, Loredana und Peter mästeten sich auf einer Weihnachtsfeier, Hans ebenfalls, die Zaungäste des Westparks hatten sich im Vorfeld nicht gerührt. Nur Aaron und Walter, die Begründer der Westpark-Gamers, und das ideell-jugendliche Ehepaar Eggert, das einen Babysitter für den klügsten aller kleinen Jungen gefunden hatte, stürzten sich heute auf die Saft-Gummis von Trolli und die Erdbeer-Rhabarber-Bärchen von Bear’s & Friends.
1. “Das 20. Jahrhundert”
Moritz hatte seine Spielerfindung in statu nascendi nach Amerika mitgenommen und bei den Boardgame-Geeks einer Nagelprobe unterzogen. Mit vielen neuen Ideen kam er zurück. Beim Spielaufbau war er ungewöhnlich nervös; wie ein Vater, der seine Lieblingstochter auf den Heiratsmarkt bringt. “Vergeßt alles, was wir vorher gespielt haben!”
Das stimmt nicht ganz, denn immer noch besteht das Spielbrett aus Regionen rund um den Globus, geht es immer noch um Aspekte wie Kultur, Industrie und Militär, immer noch wird der Sieg über Einflußpunkte, Errungenschaften, Ländermehrheiten und gewonnene Kriege bestimmt. Doch die Aktionen der Spieler sind deutlich konzentrierter. Die Auswahlmöglichkeiten sind durch feste Verteilungen deutlich beschränkter als in früheren Versionen, ohne daß hier bei den Planungsmöglichkeiten etwas verloren gegangen wäre. Zur Festlegen der Züge durch die Spieler hat Moritz ganz neue Wege beschritten, die in ihrer Art wahrscheinlich noch in keinem Spiel der Welt vorkommen. Jede Aktion der Spieler gewinnt zudem im Laufe des Spiels ein Mehrfaches an Durchschlagskraft und verleiht damit dem Spielablauf die angestrebte progressive Dynamik.
Das Spiel ist ein gewaltiges Ressourcen-Management um politischen Einfluß, militärische Schlagkraft, und geographische Dominanz, die mittels Geld, Fortschritt und Ereigniskarten errungen werden. Kriege finden auch statt, schließlich steht das 20. Jahrhundert thematisch im Hintergrund und das war ja bekanntlich keineswegs eine friedliche Epoche in der Menschheitsgeschichte. Kriege zu gewinnen hat selbstverständlich einen vorteilhaften Einfluß auf die Stellung eines Spielers, sie sind aber längst nicht so dominant, daß man “Das 20. Jahrhundert” als Wargame bezeichnen könnte.
Für gewonnene Kriege gibt es keine Pluspunkte, sondern nur Minuspunkte. Für die anderen! Für alle anderen! “Nanu?!” denkt hier der Mathematiker. Doch dem Kulturschaffenden ist dieses Rechenprinzip “pädagogisch wichtig”. Vielleicht hat hier aber nur ein Politiker Sand in die Augen seiner Fangemeinde streuen wollen.
Trotz einer ganzen Reihe von Vereinfachungen ist das Spiel immer noch ziemlich kompliziert. Sogar Moritz nahm einen längst getätigten Zug zurück und bekannte entschuldigend: “Ich muß das Spiel ja selber erst mal verstehen!” Seine normalerweise recht aggressiv vorgetragene Aussage: “Das habe ich doch vorhin schon erklärt” wurde heute in einer leicht ironischen, ja fast sogar liebevollen Art zum Motto des Abends. Von jedermann gegen jedermann.
Moritz gewann mit Italien den zweiten Weltkrieg. Auf der Seite der Aliierten. (Ist das etwa selbstverständlich?) Walter versetzte seine gesamte ungarische Verwandtschaft an die Front, doch sie konnten die Entscheidung nicht mehr kippen. Alle tot! Zugleich mit der Trauer setzte sein Lamentieren über das hier eingebaute Kuhhandelsprinzip ein. Er hätte die Niederlage ja noch akzeptiert, wenn nur die geliebten Bacsis alle am Leben geblieben wären. Moritz will das in den Regeln nochmals überdenken.
Zum Schluß noch eine Weisheit des angehenden Spielerfinders: “Was einem beim Design simple vorkommt, das ist für die anderen schon viel zu kompliziert. Nur was einem super-simple vorkommt, das ist OK!”
Allmählich könnte eine WPG-Vorwertung für “Das 20. Jahrhundert” beginnen.
2. “Tain”
Aaron legte es auf den Tisch: “Ein polnisches Spiel. Es geht ums Klauen!” – Nahezu ohne Gedankenpause fingen Moritz und Walter ein schallendes Gelächter an: “Das ist eine Tautologie!” (Pardon, kochana Jola, das ist nur eines dieser saublöden Harald-Schmitt-Klischees!)
Jeder Spieler besitzt den gleichen Satz von Spielkarten: 1 Hausherr, 1 Tochter, 2 Kämpfer, 6 Burschen und 8 “Blefs”. Diese Karten werden verdeckt entweder zum Viehdiebstahl vor die Eingänge der fremden Stallungen gelegt oder zur Abwehr des Diebstahls hinter die Eingänge der eigenen Stallung. Sind alle Angriffs- und Verteidigungsplätze auf allen Stallungsplänen belegt, werden die Karten aufgedeckt und die zugehörigen Außen- und Innenpositionen nach der Methode Stein-Schere-Papier ausgewertet: Der Hausherr gewinnt gegen alle, der Krieger gegen das Mädel und die Burschen, der “Blef” verliert gegen alle. Letzterer ist nur ein Dummy, ein halbes Gesicht mit einer heraushängenden Zunge, und wenn man die Spielkarte verkehrt herum betrachtet, dann ist es ein rechter Arsch.
Von Ferne erinnert der Mechanismus an “Hols der Geier”, doch dort spielen alle gegen alle und zwar um hohe Siegpunkt-Differenzen, noch dazu mit lauter verschiedenen Karten. In “Tain” stehen sich immer nur zwei Mitspieler gegenüber, es geht nur um eine einzige Kuh und als Einsatz hat man 50 Prozent identischer Ärsche in der Hand! Kann man damit eine “Kartenpflege” betreiben?
Da Burschen und das Töchterlein im eigenen Hause vergewaltigt werden können, schickt man sie am besten zum Diebstahl in fremde Häuser, da können sie wenigstens nicht ver- oder entführt werden; der Hausherr geht am besten ins fremde Königreich, von dort bringt er garantiert immer eine Kuh mit nach Hause; die Kämpfer verteidigen die Eingänge und die Ärsche füllen die restlichen leeren Plätze aus. Folgen jedoch alle Spieler dieser Triviallogik, dann wird das Spiel noch öder.
Moritz konstatierte sofort: “Was dem Spiel fehlt, ist ein Spion. Er verliert gegen alle, deckt aber eine fremde Karte auf.” Oder so ähnlich. Dem Spiel fehlt noch viel mehr!
WPG-Wertung: Aaron: 4, Moritz: 6 (stimmig und hübsch; ich schlage es als unser nächstes Spiel des Monats vor), Walter: 4