„Ich bin ins Straucheln gekommen und lag plötzlich zusammen mit Passagieren im Boot“ beteuerte Francesco Schettino, der Unglückskapitän der “Costa Concordia”. Welch ein Zufall, Glück oder Pech, dass auch der erste und der zweite Offizier in das gleiche Rettungsboot strauchelten. Sie sind wohl unglücklicherweise an der Reeling mit den Köpfen zusammenstroßen. Walter schüttelte den Kopf: „Ein Deutscher würde sich schämen, sich mit solchen lächerlichen Lügen aus der Bredouille reden zu wollen.“ Aaron stieß ins gleiche Horn: „Ein Deutscher wäre nie von Board gegangen.“ Horst legte noch eins drauf: „Nicht einmal der Wulff!“ Heute, Mitte Januar 2012 heißt das wohl: „Selbst wenn er ins Straucheln gerät.“ Vielleicht, weil er weiß, dass unten kein einziges Rettungsboot steht.
1. “Ora & Labora”
Das neue große Spiel von Uwe Rosenberg kann an uns nicht vorbeigehen. Trotz Walters vieler Vorbehalte gegen die enorme Summe an Regeln, Material und komplexen Abhängigkeiten. Und gegen die Masse an erforderlichen Gehirnschmalz, um auch nur einen Bruchteil der möglichen Spieloptionen logisch und logistisch anzugehen. Die Stimmung ging von erwartungsvoll (Horst) über abwartend (Aaron) und großmütig (Günther) bis zu skeptisch-ironisch.
Ein erstes Gelächter erhob sich, als die Unmengen von Spielmaterial auf dem Tisch lagen. Noch mehr als gefürchtet. Von Haus aus gibt es gleich 2 Spielpläne für die Varianten „Frankreich“ und „Irland“. Weiterhin u.a. 4 „Landschaften“ (private Ablagebrettchen für jeden Spieler), 18 Zusatzlandschaften (für die individuelle Erweiterung der privaten Ablagebrettchen) und 450 Spielmarken für die Resourcen Torf, Vieh, Getreide, Holz, Lehm, Münzen, Bücher, Steine, Trauben, Mehl, Malz. Aaron meinte: „Eigentlich müßte man den Rosenberg einmal ansprechen, warum es so viele Resourcen gibt.“ Wahrscheinlich erhielt er eine ähnliche Antwort wie Kaiser Franz II auf seine Kritik an Mozarts „Entführung aus dem Serail“: „Gewaltig viele Noten!“. Mozart soll geantwortet haben: „Gerade so viel Noten als nötig sind.“ Zumindest für ein abendfüllendes Mammutprogramm.
Günther hat bei den Münchener Spuiratzn schon sechs Stunden in einer einzigen „Ora & Labora“-Aufführung verbracht. Deshalb mutete er uns heute nur die Kurzversion zu. Und alle Mitspieler versprachen, nicht zu denken, sondern nur zu handeln. Wir wollten nur die Fäden grob kennenlernen, die ein genialer Komponist hier für uns geknüpft hat.
Unsere Pöppel heißen diesmal „Klosterbrüder“. Wir schicken sie auf unsere Äcker, damit sie dort arbeiten und Rohstoffe einfahren. Wir legen uns Veredelungsbetriebe zu, um die Rohstoffe zu veredeln: aus Lehm wird Keramik, aus Getreide wird Mehl und Stroh, aus Mehl wird Brot und aus Schafen wird (Birgit, bitte weglesen) Schinken.
Mit den Erträgen legen wir uns neue, größere, effizientere Betriebe zu und erzielen mehr und bessere Produkte für größere Erträge usw. Alles ist vorzüglich konstruiert. Alles ist sorgfältig aufeinander abgestimmt und ausbalanziert. Die Konkurrenz um die verfügbaren Äcker und Betriebe bringt ein angenehmes Maß an Interaktion ins Spiel. Dabei herrscht aber keineswegs ein Alles-oder-Nichts-Prinzip vor. Wenn uns ein Mitspieler einen besonders lukrativen Betrieb vor der Nase weggeschnappt hat, können wir ihn für die eigenen Bedürfnisse um einen geringen Obolus mieten.
Auch andere Spielelemente wie
- das Steigen und Fallen der Preise beim “Ertragsrad”
- das Verfahren beim Aussenden und Zurückholen der Klosterbrüder
- das Wachsen und Verteilen der Erträge
zeigen die Handschrift eines erfahrenen Autors, der weiß, wie man ein Thema gefällig, ausbalanziert und mit Stimmung umsetzt. Es gibt ausschließlich konstruktive, vorwärtsgerichtete Spielzüge. Dass mancher aber von der unbeherrschbaren Masse an spielerischer Substanz erschlagen wird, steht auf einem anderen Blatt.
Günther brauchte etwa eine Stunde, um die Regeln für die Kurzversion im groben und ganzen darzulegen. Eine weitere Stunde ließen wir unsere geistlichen Pöppel – weitgehend aus dem Bauch heraus – zwischen Bauerndörfen, Weinbergen und der Künstlerkolonie neben der Hafenpromenade arbeiten. Dann brachen wir ohne Widerrede ab. Wir hatten genug an Einzelfäden kennengelernt. Die weiteren Jahrtausende, die es braucht, um den gesamten Knoten zu erfassen und zu lösen, die haben wir uns heute erspart. Horsts Herzenswunsch: „Man müßte ein Spiel erfinden, das man bereits nach der Erklärung der Spielregeln abbrechen kann.“ Ein gutes Spiel, wohlgemerkt!
Mitten beim Wegräumen des Spielmaterials fiel Aaron bedauernd ein, dass er noch kein Session-Foto geschossen hatte. Günther konnte ihm versichern: „Auch jetzt liegt noch soviel Material auf dem Tisch, dass ein Außenstehender nicht mitbekommt, dass die Hälfte schon abgeräumt ist.“ Aaron tröstete sich damit: „Das Material ist auch nicht fotogen.“ Da sind dem Raben wohl die Trauben zu sauer geworden.
WPG-Wertung: Aaron: 5 (elendige, fummelige Optimiererei), Günther: 6 (es ist nicht mein Spiel, ich kenne aber viele Spieler, die darauf abfliegen), Horst: 9 (das ist mein Spiel. Ich finde das geil und würde jederzeit die Voll-Version angehen.), Walter: 6 (man darf nicht denken, sondern muß sich treiben lassen, sonst ist das Spiel tödlich. Wenn mir jemand die grobe Richtung zeigen könnte, wie man hier auf die Siegesstraße kommt, würde ich für den vergossenen Schweiß des Autors 9 Punkte vergeben.)
2. “Titania”
Zehn Einträge findet man bei Wikipedia zum Begriff „Titania“, von Kinos über Hängeleuchten bis zur Elfenkönigin. Doch Rüdiger Dorns immerhin schon zweijähriges Spiel ist nicht dabei. Hier steht der Name für ein verfallenes Königsreich, mitten in einem Meer aus Hexagonalflächen.
Wir plazieren rote, blaue und gelbe Schiffe auf dem Meer und entdecken mit ihnen Muscheln und Seesterne. Die Schiffe gehören allen, die entdeckten Gegenstände aber nur denjenigen, der sie zuerst entdeckt hat. Die Muscheln sammeln wir, um damit Türme zu bauen und dafür Siegpunkte zu kassieren. Dazu müssen wir mit unseren neu gelegten Schiffen bestimmte Hexagons der Spielfläche erreichen. Die Seesterne sammeln wir ebenfalls, um sie im richtigen Moment an den Turmbauplätzen in Siegpunkte zu verwandeln, oder um die Siegpunktquoten für die gebauten Türme zu erhöhen.
Mit Handkarten wird gesteuert, welche Schiffsfarbe wir legen dürfen. Maximal drei Karten dürfen wir pro Zug ausspielen. Maximal drei Karten dürfen wir pro Zug nachziehen. Die Summe der ausgespielten und der nachgezogenen Karten muß genau drei ergeben. Man braucht wohl kein Mathematiker zu sein, um daraus zu erkennen, dass man nur eine Karten nachziehen darf, wenn man zwei Karten gelegt hat und dass man keine Karte legen darf, wenn man drei Karten nachziehen will.
Die Schiffe einer Farbe müssen eine zusammenhängende Kette bilden. Es ist also nicht so ganz trivial, als erster einen ganz bestimmten gewünschten Ort auf der Hexafläche zu erreichen. Man muß die richtigen Handkarten gezogen haben, sich definiert-proportioniert annähern und im entscheidenden Augenblick darf kein Mitspieler schneller sein. Bei dem herrschenden Mitspielerchaos mit den unkalkulierbaren Zugmöglichkeiten und Ambitionen ist das Ergebnis zum großen Teil Glücksache. Ein nettes, harmloses Glück, aber doch nur ein Glück.
Dass unser Baumaterial aus Muscheln besteht, legt natürlich das übliche Wortspiel in den Mund. Horst war der unbestrittene Muschelkönig. Aaron offenbarte seine Vorliebe für weiße Muscheln. Am Ende konnte der erfahrenere Günther mit Technik und Raffinesse beiden dann doch noch den Rang ablaufen.
WPG-Wertung: Aaron: 6 (höherer Spielspaß als O&L, er würde mehr Punkte vergeben, wenn das Spiel nach einer einzigen Epoche – ggf. mit mehr Schiffen – zu Ende wäre), Günther: 6 (ein gutes Familienspiel), Horst: 6 (hat Spaß gemacht), Walter: 5 (lockerer Spaß mit sehr begrenzten Planungsmöglichkeiten)
3. “Rapa Nui”
Schon letzte Woche lag das flotte, wohlproportionierte Karten-Sammel-und-Auslege-Spiel bei uns auf dem Tisch. Wir wetteifern mit den Mitspielern um die beste Auslage für die beste Sammlung. Das Spiel
- ist flott
- enthält einen hübschen Spannungsbogen
- mischt Glück und Planbarkeit in einer spielerischen Kombination
- ist sehr interaktiv
WPG-Wertung: Horst lag mit seinen 8 Punkten („Super-Spiel“) im Bereich der bisheren Wertungen
Horst hält das Spiel für einen Anwärter auf das „Spiel des Jahres“. (Das was als positive Aussage gemeint!) Walter bezweifelt dies. Schon allein wegen seiner Schwierigkeiten in der Kosten-Nutzen-Rechnung für Prieser und Opfergaben.
Hallo Birgit, viel Spaß in den Rapa-Nui-Zweierrunden mit Deinem Horst!
4. “Flaschenteufel”
Ein „Gehirnverzwirrler“, der bei uns als Absacker dem „6 nimmt“ schon den Rang abgelaufen hat. Obwohl es nach erhöhtem Weingenuß nicht mehr so leicht zu durchschauen ist, welchem Nachbarn man die kleinere und welchem die höhere der ungeliebten teufelsverdächtigen Karten zuschustern soll. Und wie man seine Kartenhand abspielen muß, um möglichst viele Stiche zu bekommen, ohne am Ende auf dem Teufelsstich sitzen zu bleiben.
Keine neue WPG-Wertung für ein hübsches Spiel.