Sechser-Runden sind bei uns verpönt. Die sinkende Aktionsfrequenz läßt bei den Sensiblen den Gallendruck übermäßig ansteigen, besonders wenn sie dann noch auf Denkpausen der Marathon-Logiker warten müssen. Deshalb wird am Westpark nach 5 Anmeldungen die Teilnehmerliste geschlossen.
Doch diesmal kam eine besondere Sechser-Runden am Westpark zustande. Andritzens brachten ihren frisch gebackenen Milo mit. Sieben Wochen ist er alt, hat aber schon das Durchhaltevermögen eines Profis. Sowohl an der Mutterbrust als auch in seiner Liege-Trage-Tasche. Kein Mucks war zu hören, als er den Regelerklärungen seines Vater lauschen durfte. In den nachfolgenden 4 Stunden Spiel-Gelächter kam kein einziges zurechtweisendes Wort über seine Lippen. Und als er weit nach Mitternacht mit seinen beiden Eltern unter dem Arm von dannen zog, war er immer noch eitel Lächeln und Sonnenschein. Von einem solchen Non-Playing-Captain kann jede Bridge-Nationalmannschaft nur träumen.
1. “Iroquoia”
Moritz hat das Spiel letztes Jahr in Essen von seinem original-indianischen Autor gekauft. (50% Westpark-Gamer-Rabatt.) Ein dreiviertel Jahr hat es gedauert, bis er es endlich auf den Tisch legen konnte.
Die Spieler versuchen in Stammeskämpfen um Biberfälle die meisten Siegpunkte auf ihre Seite zu ziehen. Bevor Moritz die wenigen Seiten Regelheft rübergebracht hatte, wurde er schon von Aaron (!) unterbrochen “Und wie bekommt man die Biberfelle?” “Durch Würfeln!” war die spontane Antwort. Doch als Moritz darauf in entsetzte Gesichter von vier WPGlern blickte, schob er schnell nach: “Durch gute Entscheidungen!”
Pro Zug würfelt jeder mit fünf Farb-Würfeln, sucht sich davon zwei Farben heraus und darf damit zwei Aktionen ausführen:
1) Sich entsprechend-farbige Krieger zulegen.
2) Auf entsprechend-farbigen Felder Einflußmarker legen
3) Die Stärke der Biberfell-Verteidiger ausspionieren.
4) Einen Krieg vom Zaun brechen.
Am Krieg darf sich jeder beteiligen, der im Besitz mindestens eines Kriegers ist. Die Stärke der Gegenseite wird durch verdeckt liegende Punkte-Karten bestimmt. Zu Beginn eines Kampfes wird per Würfel ermittelt, welche Krieger ins Gras beißen müssen. Bleiben dann noch mehr Krieger übrig als Verteidiger, werden die Biberfelle unter allen Kriegsteilnehmern verteilt. Der Kriegsverbrecher selbst bekommt noch ein zusätzliches Biberfell. Wer am Ende die meisten Biberfelle besitzt, ist Sieger.
Der Abend war eine Krönung von mangelnden Regelverständnissen. Moritz hatte das englische und Aaron das deutsche Regelheft auf dem Schoß. Aber vor lauter Spielgier ließen es beide beim oberflächlichen Durchlesen sein und wir fingen als Halb- oder Viertelwissende sofort mit dem Spiel an. Learning by playing!
Erster Fehler war der Glaube, daß die Krieger, die ein jeder erwürfelt, Allgemeingut wären. Ein kluger Spieler wählt dann doch lieber Einflußmarker aus; die gehören ihm alleine. Ein äußerst friedlicher Wettlauf um die Vorherrschaft über 0 (in Worten: Null) Krieger begann.
Der zweiter Fehler war, daß wir den Führungsbonus für die Einfluß-Majorität immer dann vergaben, wenn ein Spieler am Zug war. Eigentlich sollte das zu Beginn jeder Runde erfolgen. Dieser kleine Unterschied gewährt dem jeweilige Startspieler einen deutlichen Vorteil: Bei der üblichen asymmetrischen Verteilung kassiert er seinen Bonus und vermasselt mit seinem anschließenden Zug den Bonus des nächsten. Und so weiter.
Gravierend kam hinzu, daß wir den Startspielerr nicht reihum wechseln ließen. Günther war als Startspieler ausgewürfelt worden und nach gewohnter Sitzordnung war Aaron Letzter. Irgendwann ging ihm dann auf, daß er beim Verteilen der Einflußmarker benachteiligt war und bestenfalls immer nur gleichziehen konnte. Das konnte kein vernünftiges Spieldesign sein. War es ja auch nicht, nur eine Regelwidrigkeit unsererseits. Aaron akzeptierte, daß wir das Spiel beim aktuellen Spielstand mit richtiger Regel fortsetzen.
Die Einflußmarker gingen langsam aus und wir mußten wohl oder übel auch die Krieger ins Spiel würfeln. Wer sich jetzt durch einen guten Wurf auf einem Einflußfeld die Mehrheit erwürfelte, durfte gleich 5 oder 8 Krieger unter seine Fittiche nehmen. Klar, daß er sie dann umgehend in die Kämpfe um Biberfelle schickte. Aber weil ihm in der Regeln niemand zu Seite stand (erstens waren überhaupt nur wenige Krieger auf dem Spielbrett und zweitens gab es für die meisten auch noch keine Einflußmehrheiten), wurden die Kämpfe verloren und die Biberfelle nicht verteilt. Ein vierfaches Gelächter pro einem langen Gesicht war die Quittung. Über den verlorenen Kampf. Und ein fünffaches Gelächter über die Ungereimtheit des Spielregeln. Ausgerechnet unser Konstrukteur Günther konstatierte: “Irgendwie fehlt das destruktive Element”.
Bis uns das Licht über unsere Regelfehler aufging. Aaron war froh, daß er noch kein Foto über die Spielszenerie ins Internet gestellt hatte. Es gibt nämlich immer aufmerksame Leser, die sich dann beschweren, daß eine Figur am falschen Platz steht. (Mit solchen regelwidrigen Fotos könnte man ein ganzes eigenständiges Spielequiz abwickeln.) Ein Spielabbruch war unvermeidlich.
Zwei Stunden waren um, eine halbe davon für die Bewunderung von Milo, eine weitere halbe für den (unvollständigen) Vortrag der Spielregeln und eine Stunde mit Ziehen und Lachen oder mit Lachen und Ziehen. Doch das Spiel war eigentlich unschuldig. Einvernehmlich ließen wir “Bluff” und “Weiß-der-Kuckuck-Was” sausen, die Irokesen haben einen zweiten Versuch verdient.
Walter wurde neuer Startspieler und blieb bei seiner Präferenz für Einflußmarker vor Kriegern. Die anderen ließen schneller ihre angeborene Neigung zum Kriegshandwerk erkennen. Moritz lud zum ersten Biberfell-Krieg ein. Niemand wollte sich beteiligen, nicht mal sein anvertrautes Weib. Sie war gerade mit dem Stillen ihrer Erstgeburt beschäftigt und zog diese Heimchen-am-Busen-Rolle derjenigen einer Amazone vor.
Moritz hatte 3 rote und 2 lila Krieger im Einsatz. Da er alleine geblieben war, war der Kampf schon nicht mehr zu gewinnen. Allerdings würfelte er mit 5 Würfeln genau 3 rote und 2 lila Flächen und verlor mit einem Schlag alle seine Krieger. Die Wahrscheinlichkeit für diesen Maximum-Damage-Wurf ist (wenn ich mich nicht irre): 5-über-3 mal 5-über-2 geteilt durch 6-hoch-5, also immerhin 1,286 Prozent. Es war nicht Moritz’ Tag, der da zur Neige ging. Ausgerechnet er, der unbestritten beste Warrior in unserem Kreis, stieß solche Verzweiflungssätze aus wie “Ich mach jetzt einfach irgendwas, mir ist es wurscht” oder, mit etwas mehr Klageschmalz auf den Lippen: “Jetzt möchte ich gerne mal einen Kampf initiieren, aber da kommt eh wieder keiner mit.”
Günther initiierte einen Krieg und alle kamen mit. Nach dem vorletzten Kampfwürfeln zum Ausdünnen der Angreifer waren nur noch je 7 Krieger von Aaron und Moritz auf dem Brett sowie 6 eigene Krieger. Beim letzten Wurf würfelte er Blau und durfte entweder von Aaron oder von Moritz oder von sich selber einen blauen Krieger entfernen. Für wen wird er sich wohl entschieden haben? Natürlich für den, der allen anderen den lautesten Schwanengesang garantierte! Doch er blieb diesmal in piano!
Bis weit nach Mitternacht begleiteten wir unsere Spielzüge mit ausladenden Diskussionen über optimales Engagement im Krieg und Frieden und über beste Irokesen-Taktiken. Gibt es hier denn so etwas? Andrea, Moritz und Walter schätzten den reinen Glücksfaktor von “Iroquoia” auf 70%, Aaron und Günther wollten nur 50% zugestehen, bis Aaron seine Zahl ganz zurückzog und die grundsätzliche Frage stellte, wie überhaupt Zahlenwerte für den Glücksfaktor zu definieren seien. Zu vorgerückter Stunde kamen wir auf keine allgemein akzeptierte Formel mehr.
Am Ende hatte Andrea die meisten Biberfelle gewonnen. Sie bekannte, daß sie keine eindeutige Strategie verfolgt hat, sondern lediglich versucht hat, spontan aus jedem Wurf das Beste zu machen. Was sagt das jetzt über den Glücksfaktor bei “Iroquoia” aus?
Es bleibt die bemerkenswerte Tatsache, daß das einzige, noch dazu stillende Lamm-Weib gegen vier Wolfs-Männer gewonnen hat. Einfach durch weiblich-pragmatisches Vorgehen. Die theoriegeilen Strategen blieben auf der Strecke. Ist “Iroquoia” doch nur ein Glücksspiel? Nein, diese Wertung wäre ungerecht. “Iroquoia” ist – um Moritz’ Worte zu gebrauchen – ein sehr gut ausbalanziertes, elegantes Kampfwürfelspiel. Es ist wert, ein “Eurogame” genannt zu werden. Wenigstens honoris causa. (Für “Indianer” hatten die alten Lateiner noch kein eigenes Wort!)
WPG-Wertung: Aaron: 7, Andrea: 7, Günther 7, Moritz: 5, Walter: 7
Ich bin sicher, bevor sich Moritz das nächste Mal an den Stand seines indianischen Spiele-Autors begibt, hat er zu seinen mageren 5 Ausreißerpunkten 2 weitere hinzugefügt.