03.09.2008: Die Zinnschürfer und ihr Vorbild

Walter servierte einen Villányi Cuveé – Cabernet Sauvignon – Merlot. Loredana schickte ihn noch eigens in den Keller um den Drop-Stopper zu holen, kein Tropfen sollte verloren gehen. Doch das zweite Glas war noch nicht eingeschenkt, da hatte sich das erste bereits über die Tischdecke ergossen. Vollständig. Der Griff zum Frottee-Handtuch ist schon Routine. Und glücklicherweise ist das Spielmaterial von “Tinner’s Trail” so hochwertig, daß kaum welche sichtbaren Spuren zurückblieben. Günther, Du darfst Deine Leihgabe das nächste Mal kritisch begutachten. Doch mit der Forderung nach einem neuwertigen Ersatz wirst Du uns vor unlösbare Probleme stellen. Das Spiel ist vergriffen, und eine Neuauflage ist nicht in Sicht!
Laß Dich von Peters Drohung: “Euch leih’ ich keine Spiele” nicht ins Bockshorn jagen. Man kann noch alles gut erkennen. Und die anschließend verschütteten Gläser mit Mineralwasser ließen schon gar keine roten Spuren zurück. Vor allen Dingen, so konnte Loredana die Fakten auf den Punkt bringen: “Solange das Handtuch noch da ist!”
1. “Tinner’s Trail”
Bei Auswürfeln der Startreihenfolge nutzen wir den Zinnwürfel. Kein Wunder, daß der virtuelle Moritz Startspieler wurde und Aaron Zweiter. Erst als wir danach eine Null würfelten, fiel auf, daß die statistische Zinnverteilung keine Gleichverteilung ist. Mit einem stinknormalen Hexawürfel mußten wir die Prozedur wiederholen.
Während Aaron die Startaufstellung auswürfelte, durfte Walter den Neulingen einen globalen Überblick über den Spielablauf geben. Schließlich hat er schon seine Rezension fertig und sollte das Spiel gut genug kennen. Doch bevor er anschließend in die Details gehen konnte, hatte ihm Peter schon das Wort abgeschnitten und Aaron zum “Erklärer strikt nach Regelheft” gekürt. Alles schon mal dagewesen. Jede Woche dasselbe!
Ein Disput entstand um die Formulierung, ob der “Letzte” oder der “Erste” Spieler auf der Zeitachse am Zug ist. Der Sachverhalt ist unbestritten, nur das Wording stand zur Debatte. Zur Entscheidung wurde der Text im Regelheft nachgeschlagen. “The active player is the one who has spent the least amount of Time Points”! Bewegen wir uns hier jetzt nach vorne oder nach hinten?
Walter hatte schon wie beim letzten Mal in der ersten Runde sein ganzes Pulver in Minen verschossen und mußte trotz des stolzen Kupferpreises darauf verzichten, sein Erz zu fördern und zu verkaufen. Nur über Pastries konnte er sein Minenimperium ernähren. Irgendwie lief das Spiel an ihm vorbei. Zwei Runden lang förderte er kein einziges Milligramm Erz, während die Mitspieler schon riesige Summen in die Siegpunkte investieren konnten. Er wurde mitleidig belächelt, einschließlich von sich selbst.
Aaron suchte immer wieder neue Wasser- und Weinspuren in Cornwall. Doch meist waren das nur bekannte und gewollte Farbnuancen auf Spielbrett. Schließlich geht es hier doch um Zinn und Kupfer, das ist doch auch nicht steril unifarben.
Draußen zog ein Sturm auf. Walter mußte vor der letzten Runde schnell noch die Sitzkissen von der Terrasse zusammenraffen, da rechnete Peter schon mal den theoretischen Sieger aus. Wenn der Würfel hohe Rohstoffpreise erbringt, dann wird er selber gewinnen, kommen niedrige Preise heraus, so gewinnt Loredana. Walter machte dazu den Vorschlag, nach dem Auswürfeln der Preise gleich auf die letzte Runde zu verzichten, doch Peter wollte seinen Sieg genüßlich auskosten.
Was kam schließlich dabei heraus? Der Kupferpreis wurde zu 8 Pfund und der Zinnpreis zu 6 Pfund bestimmt, keine Höchstpreise, aber gut über dem Durchschnitt. Inzwischen hatte Walter mangels Alternativen alles Wasser aus seinen Minen abgepumpt und auch die Förderkapazitäten hochgeschraubt. Kein Mitspieler hatte Ambitionen ihm Mitarbeiter streitig zu machen. So konnte er mit Minimalkosten noch alle seine Minen leerfördern und sich mit 109 Siegpunkten die Spitze erkämpfen.
Warum schreibe ich das? Wenn der Würfel in der letzten Runde andere Verkaufspreise ergeben hätte, dann wäre die Einlaufsreihenfolge ganz anders geworden. Ist “Tinner’s Trail” also ein reines Glücksspiel? Nein! Aber wenn man nolens-volens alles auf eine Karte setzen muß und dies mit Umsicht tut, dann hat man bis zuletzt eine Chance auf den Sieg. Das ist doch ein legitimes Spieldesign, oder?
Peters Fazit: “Ein typischer Martin Wallace! Brilliante Ideen! Doch müßten sie hinterher nochmals bei Hans-im-Glück geschliffen werden!”
Walters Erfahrung: “Man darf nicht unbedingt gewinnen wollen. [Sonst artet es in eine elende Rechnerei aus.] Doch wenn man die Bergbau-Szenerie spielerisch angeht, dann ist sie eine hübsche Spielwiese zum Ausprobieren vielfältiger Strategie-Varianten.”
WPG-Wertung der Neulinge: Loredana: 6, Peter: 5 (die Erzpreise gaben ihm den Rest)
Walters Rezension sollte dieser Tage veröffentlicht werden.
2. “Die Fürsten von Florenz”
Eigentlich stand jetzt noch ein ‘Brass’ zur Diskussion. Doch zwei Stunden vor Peters vorletzter U-Bahn weigerte sich Aaron, die Neulinge noch in die umfangreichen Regeln einzuweisen. Wir mußten auf Altes und Bewährtes zurückgreifen.
“Modern Art” ist eines von Peters Lieblings-Fillern, doch die Kunst stammt schon aus dem letzten Jahrtausend und für die Versteigerei sind 4 Spieler nicht optimal. Da fiel sein Auge auf “Die Fürsten von Florenz”. Überzeugend riß er alle mit “In diesem Spiel bin ich Großmeister, auch wenn ich [auf der deutschen Brettspielmeisterschaft – anno dazumal] geschlagen wurde.”
Martin Wallace hat selbst bekannt, daß er bei den Tinners den “investment mechanism” von den “Fürsten” abgeschaut hat. Das sollte doch ein Anreiz sein, sich dieses Prinzip nochmals näher anzuschauen.
Peter durfte erklären. Der grobe Überblick war in einem Satz abgetan. Dann ging es in die Details. Mal von vorn und mal von hinten. Diese Stopselsei war selbst für die Eingeweihten keine Offenbarung. Ohne Konzept ist es natürlich schwer, einem Neuling (Loredana) die Privilegien zu erklären, bevor man die Bauwerke behandelt hat, oder die Gaukler, bevor die Gelehrten und Künstler vorgestellt sind. Selber weiß man natürlich alles in- und auswendig. Aber wie bringe ich es rüber? Ein ansonsten perfekter Erklärer mußte sich mehrmals selbst korrigieren: “Das war Quatsch, was ich gerade gesagt habe!” Nach einer guten halben Stunde war er durch. Aaron merkte emotionslos an: “30 Minuten für so ein luschi Spiel? Ich hätte in der Zwischenzeit schon 3 mal ‘Brass’ erklärt.” Peter war in der Defensive: “Das ist kein luschi Spiel. Das ist schönste und komplexeste Spiel das ich kenne.”
Loredane machte gute Miene zum bösen Spiel[erklären], Aaron hatte die “Fürsten” noch nie gemocht und hielt sich vornehme zurück, Walter war von Champagner am Nachmittag, Villányi am Abend und Peters Stegreifbelehrung eh bereits überfordert. Peter konnte zu den bekannten Pisa-Lesern in unserem Spielkreis schnell noch ein paar Pisa-Hörer ausfindig machen. Doch zum Spielen sollte es reichen.
Außer Peter hatte keiner einen richtigen Peil. Unangefochten konnte er die Gaukler-Technik verfolgen, während Walter mangels Gedächtnis an frühere Erfolge auf die fruchtlose Baumeister-Schiene verfiel. Loredana hielt sich an die guten Tips von ihrem Ehemann und Aaron flocht ab und zu ein “Wann war noch mal das Spiel zu Ende?” und “Das Spiel hat so was Autistisches!”
Sind wir älter geworden oder hat sich unsere Spielkultur inzwischen soviel geändert? Das Spiel wurde von uns früher doch wirklich mal gerne gespielt. Unverdrossen vergibt Peter heute immer noch 10 WPG-Punkte. Ganz gewiß nicht, weil er mit seinen 59 Siegpunkten den Rest der Spielfeldes fast überrundet hatte. Allerdings mußte er bekennen: “Das war die langweiligste Runde, die ich je gespielt habe. Weil ihr es nicht gerafft habt!” Muß man die Pisa-Versager mit so harschen Worten abtun?
Vielleicht kann er uns aber nachträglich noch erklären, von welcher Stelle in den “Fürsten” Martin Wallace seine Siegpunkt-Investitionen für die “Tinners” abgekupfert hat.
WPG-Wertung (o.B.d.a.W.): Aaron: 5, Loredana: 6, Peter: 10, Walter: 8.
3. “Bluff”
Aaron und Loredana bestritten beide Endspiele. Einmal mit 3:3 und einmal mit 4:4 Würfeln. Loredana ließ sich zweimal abschlachten. Unser sprichwörtlicher Würfelpechpilz konnte problemlos beide Endspiele für sich entscheiden.

Ein Gedanke zu „03.09.2008: Die Zinnschürfer und ihr Vorbild“

  1. [quote] Und die anschließend verschütteten Gläser mit Mineralwasser ließen schon gar keine roten Spuren zurück. [/quote]

    Wohl aber eine gewellte Anleitung (Bibliophile nennen so etwas “Wasserschaden”). *)

    [quote]
    Vielleicht kann er uns aber nachträglich noch erklären, von welcher Stelle in den “Fürsten” Martin Wallace seine Siegpunkt-Investitionen für die “Tinners” abgekupfert hat.[/quote]

    Es gibt zwar Ähnlichkeiten, aber dennoch gewaltige Unterschiede, sodass das Feeling ein ganz anderes ist.

    Bei FvF erziele ich durch eine gewisse Aktion so-und-so viele Florin. Die kann zum Zeitpunkt der Entstehung entweder in Cash auszahlen lassen oder zum Preis 1 SP = 200 Florin in Siegpunkte umwandeln oder eine beliebige Kombination aus beidem.

    Beispiel: Meine Aktion erzeugt 1000 Florin. Ich kann mir 1000 Florin nehmen, oder 5 Siegpunkte, oder (3 Siegpunkte plus 400 Florin) usw. usf. Ich kann aber nicht die 5000 Florin, die vor mir liegen, dazu nutzen, Siegpunkte zu kaufen.

    Folge: Ein FvF-Meisterspieler weiß (oder ahnt) den Zeitpunkt, ab dem ihm der Cash bis zum Ende von Runde 7 reicht. Bis dahin lässt er alles in Cash auszahlen, danach nur noch in SP. Es geht also um den “Knackpunkt”.

    Nun zu TT. Hier kauft man Siegpunkte am Ende jeder der vier Runden in einer speziellen Phase. Das Tertium Comparationis ist also, dass Siegpunkte für Geld zu einem festgelegten Zeitpunkt erworben werden. Hier enden allerdings die Gemeinsamkeiten.

    Denn: Bei TT verschlechtert sich die Ratio mit jeder Runde. Hier kauft man also pro Runde so viele SP, wie es irgend geht, und behält nur so viel Kapital, wie man nächste Runde fürs Investieren braucht. Unterschied 1

    Außerdem kann man auch mit bereits vorhandenem Kapital, das also nicht in derselben Runde erzeugt wurde, SP kaufen (Ist aber doof, weil ja die Ratio sinkt. Da hätte man besser mal vorher gekauft.) Unterschied 2

    D.h., das “Feeling” bei den beiden Spielen ist ein ganz anderes. Bei FvF steigt der Reichtum des Spielers parabelhaft, bis er auf SP umsteigt und sein Geldvorrat im Idealfall bis zur Runde 7 auf 0 fällt.

    Bei TT nagt man ständig am Hungertuch, da man in SP investieren muss, wenn man nur irgend kann.

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