1. “Versailles 1919”
Es geht um die berühmt-berüchtigte Konferenz, in der die weltumspannenden Ergebnisse des Ersten Weltkrieges fixiert wurden. Moritz betonte, dass dies das erste Spiel zu diesem Thema sei, auch wenn es über den Verlauf des Krieges selbst (genauso wie über WWII) natürlich hunderttausende von Simulationsspielen gibt.
Wie laufen solche Konferenzen grundsätzlich ab? Zunächst mal setzen sich die drei oder vier mächtigsten Nationen zusammen und machen unter sich aus, wen sie am Verhandlungstisch zulassen wollen. In V1919 sind das England und Frankreich, und wenn sie es unbedingt wollen (3-Personen-Spiel), dann dürfen auch die USA bei den Großen dabei sein.
Dann wird entschieden, welche weitere Nationen noch an den Katzentisch dürfen. In V1919 ist das nur Italien. (Beim Wiener Kongress waren es noch hundert andere Delegationen. Sogar das besiegte Frankreich war dabei.) Falls man hier eine Erweiterung für ein 5-Personen-Spiel vorhat, würde ich den Vatikan als nächste Großmacht empfehlen. (Solange es ihn noch gibt.)
Jetzt wird eine Liste mit den zu lös(ch)enden Brennpunkten aufgestellt. In V1919 hat man sich auf 53 beschränkt. Deutschland selber ist nur von einem Bruchteil der Themen betroffen, z.B. Ostpreussen, Schlesien, das Rheinland und natürlich Togo und Deutsch-Südwest-Afrika als geographische Regionen. (Elsaß-Lothringen hat man tunlichst weggelassen.) Weiterhin natürlich auch von Sachthemen wie die Hochseeflotte, die Entmilitarisierung, den Anschluss Österreichs und die Reparationen. (Tunlichst wurde auch die Kriegsschuldfrage hier nicht wieder aufgetischt.) Bei der Mehrheit der anderen, weltweit zu regelnden Fragen geht es auch um das Stimmrecht für Frauen, die Reform der Arbeiter-Bewegung, und was die Autoren Mark Herman und Geoff Engelstein noch alles dazu zusammengetragen haben.
Jedes dieser Themen ist auf einer Karte aufgedruckt. Dazu die möglichen Entscheidungs-Alternativen, z.B. kann das Rheinland bei Deutschland bleiben, von Frankreich besetzt werden oder ganz an Frankreich fallen. Reparationen können niedrig, mittel oder hoch ausfallen.
Wie im richtigen Leben kommen diese Themen aber nicht systematisch zur Entscheidung, sondern so, wie sie von einer der Großmächte gepuscht werden. Jeweils zwei Themen liegen entscheidungsbereit auf dem Tisch, drei weitere sind als Nachfolge-Themen für die nächsten Beratungen vorgesehen. Wer am Zug ist, kann sich für jeweils zwei dieser insgesamt fünf Themen stark machen, indem er Einfluss-Stimmen darauf setzt. Damit wäre sein Zug beendet. Schnell und schmerzlos. Er kann aber auch für eines der beiden Tisch-Themen die Entscheidung herbeiführen. Das tut er natürlich besonders gerne, wenn die Aussichten für ihn gut stehen. Wer dort jetzt den (relativ) meisten Einfluss hat – das muss nicht der Entscheidungs-Auslöser sein -, kann beliebig einen der vorgegebenen Entscheidungsausgänge bestimmen. Er bekommt die Karte (mit Siegpunkten) und löst je nach Ausgang verschiedene Nebeneffekte aus: einzelne Großmächte werden beliebter (selten) oder unbeliebter (häufig), strategische Positionen werden bezogen (jeweils siegpunkt-relevant) und/oder die politische Unruhe in den verschiedenen Gebieten der Welt wächst.
Ab und zu (zufallsgesteuert, aber oft) wird die politische Unruhe abgeprüft. Übersteigt sie irgendwo (ausgewürfelt) einen Grenzwert (ausgewürfelt), so wird eine bereits gefallene Entscheidung aus dieser Region neu aufgerollt. Der Spieler, der die entsprechende Themenkarte besitzt, muss sie hergeben, und sie gerät in die Hände dessen, der am meisten Militär und/oder Einfluss dafür einsetzt. Dieser darf dann hierfür eine beliebige neue Entscheidungs-Alternative wählen.
Um wertvolle Themenkarten durch solche Unruhen nicht zu verlieren, kann jeder Spieler rechtzeitig Militär in die entsprechende Region senden. Damit wird die Unruhe gedeckelt, und falls sie doch noch ausbricht, erhält man Vorteile bei der Bestimmung des nachfolgenden Entscheidungsrechts. Allerdings macht man sich durch jede Art von militärischem Einsatz in der Heimat unbeliebt, denn die Bevölkerung aller Nationen ist kriegsmüde, und reagiert mit Unwillen auf jede Art von Vergeudung von öffentlichen Mitteln für diesen unsinnigen Bereich.
Der Auslöser einer Entscheidung bekommt aber das wichtige Vorrecht, eines von den drei vorgesehenen Nachfolge-Themen auf den Tisch zu bringen. Naturgemäß wird er das auswählen, auf dem er den größten Einfluss hat. Weiterhin werden ihm zwei neue Themen zur Auswahl gegeben und er kann beliebig bestimmen, welches davon bei den Nachfolge-Themen eingereiht wird. Das andere fällt mir-nichts-dir-nichts unter den Tisch, könnte aber u.U. durch einen nachfolgenden Auslöser wieder hervorgeholt werden (, was bei uns nicht vorkam).
Nach jeder Themen-Entscheidung treten charismatische Persönlichkeiten auf, von Mahatma Gandhi bis Kemal Atatürk, die Unruhe-Pegel, Militär und Einfluss-Marker oder die Zufriedenheit der Bevölkerung modifizieren.
Ist das Spiel jetzt themenorientiert? Spielt es eine Rolle, ob Gandhi auftritt? Oder ob die Unabhängigkeit von Slowenien verhandelt wird? Absolut nicht. In der Regel haben wir kein einziges Brennpunkt-Thema durchgelesen und bei den möglichen Entscheidungs-Alternativen lediglich auf die Bilder geschaut: England und die USA verlieren je einen Zufriedenheitspunkt? Der Franzose wäre dafür, die anderen beiden nicht. Im Mittleren Osten steigt die Unruhe? Wen juckt’s?! Die USA erhalten ein zusätzliches Geschwader? Ein Siegpunkt wird dafür vergeben. Nicht schlecht.
Wir hätten uns mit unseren Entscheidungen leichter getan, wenn die Großmächte lediglich durch die Farben rot, grün, gelb oder blau vertreten gewesen wären und wenn die strategischen Positionen (Siegpunkte) mit den gleichen Farben gekennzeichnet worden wären. Hier haben die Autoren sich unendlich Mühe gegeben, eine Fülle von Einzelheiten schlagwortartig zusammen zu tragen. Geschichtsinteressierte können hinterher noch stundenlang im Internet Personennamen abfragen und die Details zu den geographischen Entscheidungen nachlesen. Wen das soviel interessiert, wie wenn in China ein Radl umfällt, der kann es auch sein lassen. Es spielt für den Ablauf des Spiels und für die Entscheidungen der Spieler überhaupt keine Rolle.
Bemerkenswert ist hier eher, dass das Spiel von hinten bis vorne voller Kingmakerei steckt. Bei uns bildeten wie von zufällig Günther und Walter eine Koalition, die sich gegenseitig Themen zuschusterte, Reihenfolgen von Entscheidungen absprach und Siegpunkte anhäufeln ließ. Moritz war der leidvolle Dritte ohne Bund, der bloß zuschauen konnte. Selbst für eine verbale Interventionen in diesem abgekarteten Spiel blieb ihm das Messer im Halse stecken.
WPG-Wertung: Günther: 4 (oder 5), Moritz: 5 (ich hätte nicht gedacht, dass hier die Kingmakerei so ätzend ist), Walter: 6 (für das Thema. Das Einfluss- und Entscheidungs-Handling bietet erhebliche Handlungsfreiheit. Alle Entscheidungen sind leider ziemlich verwaschen, d.h. Pluseffekte gehen mit Minuseffekten überall Hand in Hand).
2. “Sankt Petersburg”
Eine Stunde war noch Zeit bis zur vorletzten U-Bahn für Moritz. Aus Walters Repertoire zogen wir diesen Klassiker hervor, für den Günther vor Jahren sogar eine Internet-Implementierung geschaffen hatte.
Es gab zwar ein kleines Kuddelmuddel, denn unter die Karten des Original-Spiels waren die Karten der Bankett-Expansion eingemischt, die wir erst im Laufe des Spiels so peu-a-peu wieder aussortierten. Trotzdem kamen die Qualitäten dieses mehrfachen Spiele-Preisträges wieder voll zur Geltung: denken und planen ohne dabei aber viel Denkzeit zu benötigen, verschiedene Strategien zum Sieg fahren, oder wenigstens ausprobieren, jede Menge Interaktion, ohne dass dies zu einem – für uns sogar noch tolerierbaren – Mitspielerchaos ausufern würde. Ein dosiertes Quantum Zufall ist eingebaut, dem jeder Spieler zum Teil aber auch entgegenwirken kann. Rund und zügig.
Ach Hans, würdest Du heute immer noch dafür nur 7 Punkte vergeben, wenn Du noch einmal mitspielen könntest? Wenn ich mir die Rangliste der von uns gespielten Spiele anschaue, dann gehört das Spiel bestimmt nicht in die einundzwanzigste Kategorie (von 139), sondern ganz bestimmt unter die Top-Ten!
WPG-Wertung: Keine neue Wertung für ein 8,0 Punkte-Spiel.