Eine kleine Gemeinschaft von Spieleentwicklern bringt in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen neue Varianten der 18xx-Eisenbahnspielreihe heraus. Neben den wenigen größeren Verlagen, die den Mut haben, ein professionell gestaltetes 18xx-Spiel für die kleine Fan-Gemeinde herauszubringen, gibt es inzwischen einige engagierte 18xx-Autoren, die ihre Spiele in hervorragender Aufmachung anbieten. Ein solches Prachtstück, noch in seiner Prototypform, durften Günther und Aaron kürzlich kennenlernen.
1880 – China
Über dreißig 18xx-Varianten sind inzwischen erschienen und man ist geneigt zu fragen, was außer einer neuen Länderkarte denn noch wesentlich Neues bei einem 18xx-Spiel entwickelt werden kann. Und hier ist 1880-China eine wirkliche Überraschung. Helmut Ohley und Lonny Orgler (Double-O Games) haben sich für ihr Spiel ein paar Mechanismen einfallen lassen, die das etwas angestaubte 18xx-Konzept in neuem Glanz erscheinen lassen, ohne dabei auf Bewährtes zu verzichten.
Der folgende Text beschreibt nur diese Neuerungen und der mit dem 18xx-Konzept noch nicht vertraute Leser möge sich anhand der vielen 1830-Artikel auf unserer Web-Site über die wesentlichen Prinzipien informieren.
Neben den bereits bekannten Privatgesellschaften mit ihren jeweiligen Sondereigenschaften und konstanten Erträgen gibt es als erste Neuerung die ausländischen Investoren, die in den ersten Spielphasen agieren. Jeder Spieler sucht sich nach der Versteigerung der Privatgesellschaften einen der sieben Investoren aus, deren Heimatbahnhöfe bunt über den Spielplan verteilt sind. In den anschließenden Betriebsrunden baut dann der Spieler vom jeweiligen Heimatbahnhof eine Bahnstrecke, die sogleich mit der gerade zum Verkauf stehenden Lok befahren wird, ohne dass diese erworben werden muss. Das Einfahrergebnis landet vorerst in der Kasse des Investors. Der Investor ist zudem fest an die erste vom jeweiligen Spieler gegründete Eisenbahngesellschaft gebunden und beide haben das Ziel, ihre Netze miteinander zu verbinden. Sobald dies geschieht, verschmilzt der Investor mit der ihm zugeordneten Gesellschaft und sein bis dahin eingefahrenes Kapital geht zu mindestens 80% an diese Gesellschaft; die restlichen maximal 20% darf der Direktor der Gesellschaft einsacken.
Die Wahl der Gesellschaft/Investor-Kombination bietet einerseits neue taktische Möglichkeiten im Streckenbau und andererseits neue Herausforderungen durch das notwendige Timing des Zusammenschlusses der beiden Netze. Gleichzeitig ist jeder Spieler mit Beginn der ersten Betriebsrunde aktiv mit mindestens 2 Linien am Streckenbau und den Einfahrergebnissen beteiligt.
Die wohl bemerkenswerteste Neuerung ist die variable Anzahl an Betriebsrunden oder, wie der Autor sagte, der variable Zeitpunkt der Aktienrunde. Wie gewohnt legt jeder Direktor bei der Firmengründung den Initialwert seiner Aktie fest. Dieser kann bei 1880-China einen von vier Werten annehmen: 70, 80, 90 und 100. Anders als bei anderen 18xx-Spielen gibt es eine Platzierungsleiste – eigentlich ein Platzierungsring – mit einer festen Anzahl an Initialwertpositionen: 4×70, 2×80, 2×90 und 4×100). Der Spieler legt beim Kauf der Direktoraktie einen Gesellschaftspöppel auf einen beliebigen freien Platz dieser Leiste und bestimmt damit
- wie üblich den Initialpreis der Aktien der Gesellschaft und
- die Position der Gesellschaft in der Abarbeitungsreihenfolge der Betriebsrunde. Diese liegt damit für die gesamte Spieldauer fest und ändert sich nicht bei Aktienkursänderungen.
Zusätzlich dient diese Platzierungsleiste zur Steuerung der Betriebsrundenanzahl. Sie wird zyklisch abgearbeitet, d.h. hat die letzte Gesellschaft der Leiste ihre Betriebsphase beendet, beginnt eine neue Betriebsrunde bei der ersten.
Aber wann gibt es eine Aktienrunde? Ein kleiner Markierungspöppel kennzeichnet dabei diejenige Gesellschaft, die als letzte eine Lok gekauft hat. Wenn nun, analog dem Passen der Spieler in der Aktienrunde, keine nachfolgende Gesellschaft mehr eine Lok gekauft hat, gibt es vor der Ausführung der Betriebsrunde der markierten Gesellschaft eine Aktienrunde. Außerdem gibt es sofort eine Aktienrunde, wenn die letzte Lok eines Pakets gekauft wurde.
Damit bekommen die Lokkäufe eine neue Dimension, da hierüber in Grenzen beeinflusst werden kann, wann eine Aktienrunde stattfindet. Je nach aktuellem Einfahrergebnis und der persönlichen Bargeldsituation kann es sinnvoll sein, die Aktienrunde durch den Kauf einer Lok hinauszuzögern bzw. bewusst herbeizuführen.
Nach der Aktienrunde wird die Betriebsrunde der zuletzt agierenden Gesellschaft ggf. noch zu Ende geführt und dann mit der nächsten auf der Leiste fortgefahren. Hiermit hat ein Spieler die Möglichkeit durch entsprechende Festlegung des Initialpreises auch in den späteren Spielphasen eine neu gegründete Gesellschaft bereits unmittelbar nach der Aktienrunde in Betrieb gehen zu lassen, um so zum Beispiel die letzte – oder erste – Lok eines Pakets kaufen zu können. Dieses Element der variablen Anzahl an Betriebsrunden gepaart mit der zyklischen Abarbeitung der Gesellschaften in der Betriebsrunde verschafft 1880-China eine völlig neue Dynamik, die wohlüberlegt gesteuert werden will.
Abschließend noch zwei weitere Neuerungen, die sich harmonisch in das Gesamtkonzept einfügen. Da ist zum einen die Möglichkeit, eine variable Anzahl an Aktien als Direktorpaket zu kaufen. Das „normale” Paket hat wie üblich 20% der Aktien, daneben gibt es aber alternativ die Möglichkeit, gleich ein 30% oder gar 40% Paket zu kaufen. Je nach Spielphase müssen immer größere Pakete gekauft werden, was die Gründung neuer Gesellschaften gerade in der späten Mittelphase des Spiels verzögert. Gleichzeitig haben größere Direktorpakete den Nachteil, dass deren Gesellschaft in weniger Spielphasen bauen darf. Während man bei einem 20%-Paket noch in drei Phasen Gleise und Bahnhöfe legen darf, also z.B. in der gelben, grünen und braunen Phase, darf man bei einem 40%-Paket nur noch in einer einzigen, wählbaren Phase bauen. Gerade in der braunen Phase gestartete Gesellschaften haben dann das Problem, entweder nur in der braunen oder nur in der späteren grauen Phase bauen zu dürfen, während die früh in der gelben Phase gestarteten Gesellschaften in der grauen Phase dann nicht mehr bauen dürfen. Neben den daraus resultierenden taktischen Möglichkeiten beschleunigt diese Neuerung die Betriebsphasen der letzten Runden deutlich.
Die letze Neuerung ist eine Besonderheit der üblichen zweidimensionalen Aktienkurstabelle. Die Kurssteigerungen bei Ausschüttungen sind eher gering, so dass auch bei häufigem Ausschütten die Kurse nicht explodieren. Gleichzeitig zahlen Gesellschaften einen vom Einfahrergebnis unabhängigen Bonus aus, der umso höher ausfällt, je höher der Aktienkurs ist. Beide Mechanismen sorgen dafür, dass auch bereits lange fahrende Gesellschaften noch nachgekauft oder übernommen werden können, und dass trotzdem genügend Geld in die Kasse der Gesellschaft bzw. des Direktors kommt, um weiter investieren zu können.
1880-China ist mit seinen neuen Mechanismen eine erfrischend moderne Variante des 18xx-Prinzips, die sich positiv von seinen Urvätern abhebt. Ohley und Orgler haben hier während der vielen Monaten Entwicklungszeit ganze Arbeit geleistet und einen neuen Stern am 18xx-Himmel geschaffen und wird im Oktober dieses Jahres in der von Double-O Games gewohnten hervorragenden Materialqualität erscheinen.
Ein kleiner Wermutstropfen noch zum Schluss: was wohl keinen wirklichen 18xx-Geek abschrecken wird, ist die nicht unbeträchtliche Spieldauer von 6 Stunden. Bis Oktober soll es zwar die notwendigen Konfigurationsparameter für Lemmis 18xx-Moderationsprogramm geben, was dann die langwierige Geldauszahlung und -wechselei hinfällig macht. Aber die Spieldauer wird damit immer noch 4 Stunden betragen und die Bedienung des Moderationsprogramms ist nichts für Gelegenheitsspieler. Wie schön wäre es, wenn ein Spiel wie 1880-China auch in einer Kurzvariante mit halber Spielzeit erschiene…