Seit wievielen Jahrzehnten gibt es Neujahrskonzerte? Das Genre erlebt einen unwahrscheinlichen Boom. Das entsprechende Konzert der Wiener Philharmoniker wird mittlerweile bereits in 90 Länder übertragen. Und zweitausend Leute lassen ihre Sylvesterraketen stehen, nur um rechtzeitig um zehn Uhr Musikvereinssaal zu sein. Oder vor dem Fernseher.
Und weil der 1. Januar so kurz ist, und andere Orchester auch noch etwas von der Fernseh- und Publikums-Quote mitbekommen wollen, sind inzwischen auch Sylvesterkonzerte oder Drei-Königs-Konzerte wie Pilze aus dem Boden geschossen. Wer gar ein Neujahrs-Benefiz-Konzert veranstaltet, kann damit bis Ende Februar grassieren.
Was wird geboten? „Die faszinierenden und begeisternden Werken der Strauß-Dynastie“ sowie ihrer Zeitgenossen. So propagieren die Wiener Philharmoniker ihr Programm. Und am Ende steht immer und überall der Radecki-Marsch, bei dem das Publikum mitklatschen darf. Ist das nun „Klassik“? (Was immer man unter diesem Begriff musikalisch verstehen will.)
Muss man ein Philister sein, wenn man hierauf mit einem klaren „Nein“ antwortet? Ich tue es. Ich wundere mich über Orchester und Dirigenten von Weltrang, die den Flohwalzer noch flöhiger darbieten wollen als ihre Vorgänger. Und Moritz tut es auch. Er sagt sogar noch: „Die klassische Musik ist tot.“
1. “Die Alchemisten”
Die Welt ist aus acht verschiedenen Molekülen zusammengesetzt, nennen wir sie mal M1 bis M8, obwohl sie in der Alchemisten-Wirklichkeit natürlich klingendere Namen haben, wie z.B. Rabenfeder, Alraune oder Krötenbein. Jedes Molekül besteht aus genau je einem Atom von drei verschiedenen Elementen, der Einfachheit halber rot, grün und blau genannt. Jedes Atom ist entweder positiv oder negativ geladen. M1 könnte z.B. bestehen aus rot-plus, grün-plus und blau-minus. Wie Herr Binaeri schon vor 279 Jahren festgestellt hat, kann man aus 3 verschieden Elementen, die genau 2 verschiedene Ausprägungen besitzen – ohne Berücksichtigung der Reihenfolge – genau 23 = 8 verschiedene Moleküle herstellen. Und das sind genau unsere Moleküle M1 bis M8.
Unsere Aufgabe im „Alchemist“ besteht nun darin, herauszufinden, aus welchen Elementen sich jedes der acht angebotenen Moleküle zusammensetzt. Dazu dürfen wir aus jeweils zwei Molekülen ein Getränk brauen und das Ergebnis begutachten. Dazu wird ein Schema mitgeliefert:
- Ist das Ergebnis z.B. rot und positiv, so waren die roten Atome in den beiden Molekülen positiv und eines groß, das andere klein. (Ach richtig, die Atome gibt es jeweils in großer und kleiner Ausführung, was man mit seinem Massenspektrometer berücksichtigen muss.)
- Ist das Ergebnis z.B. blau und negativ, so waren die blauen Atome in den beiden Molekülen negativ und ebenfalls eines groß, das andere klein.
- Alle anderen roten, grünen oder blauen Plus- oder Minus-Ergebnisse kann sich jeder entsprechend logisch herleiten.
- Kommt als Ergebnis ein stinknormaler Tee heraus, dann haben sich alle Atome gegenseitig neutralisiert. Auch daraus kann man Schlussfolgerungen auf die Bestandteile der Moleküle anstellen. Wea ko dea ko!
Das nur zur eingebauten mathematischen Logik im Alchemisten. Ein unabdingbares intellektuelles Rüstzeug, das man für den Sieg verinnerlicht haben muss. Aaron brauchte knapp zwei (ZWEI) Stunden, um uns das nahe zu bringen. Und selbst dann hatte jeder von uns drei weitere Learning-by-Doing Stunden mit ständigen Rückfragen im Regelheft nötig, um einigermaßen zu wissen, wohin der Hase läuft. Das Ganze ist ja auch noch in ein äußerst solides Brettspiel verpackt, dessen reif durchkonstruierter Workerplacement-Mechanismus über sechs Runden geht:
- Wir bestimmen in jeder Runde die Zugreihenfolge. Wer zuerst platzieren darf, bekommt am wenigsten Material (Moleküle oder Braugehilfen) mit auf die Reise.
- Wir suchen uns 0 bis 2 Moleküle für unsere chemischen Brauereien aus
- Wir verkaufen Moleküle gegen billiges bares Geld
- Wir brauen aus je zwei Molekülen genau definierte Mixturen, die der Markt fordert und entsprechend hoch honoriert. (Wie bekommen wir nur innerhalb von sechs kurzen Spielrunden heraus, was aus unserem Zutaten entstehen wird?! Wenn die Mixtur nicht stimmt, bekommen wir nämlich gar nichts und sind Worker sowie Moleküle los!)
- Wir kaufen für bares Geld bare Siegpunkte oder entsprechende Vorstufen dazu.
- Wir testen, was aus zwei Molekülen entsteht.
Und das ist ein geiler, neuartiger Gag im Spiel: Mit einer eigenes entwickelten Smartphone App scannen wir die Abbildungen der beiden Moleküle ein und bekommen dann das Ergebnis angezeigt.
Natürlich ist es etwas umständlich, beim Scannen die beiden Moleküle so zu halten, dass kein Mitspieler sie sehen kann (, sonst würde er mit dem Ergebnis ja auch sein eigenes Wissen vermehren). Aber “Der Alchemist” stattet jeden Spieler mit einem trickreich konstruierten, komplizierten Gestell aus, das eine recht geheime Durchführung unserer Experimente erlaubt. - Wir veröffentlichen Analyse-Ergebnisse, d.h. wir behaupten, aus welchen farbigen Plus-Minus-Ladungen sich ein bestimmtes Molekül zusammensetzt.
Wia im wirklichen wissenschaftlichen Betrieb ist es absolut nebensächlich, ob das Ergebnis stimmt oder nicht. Allein für die Veröffentlichung bekommen wir Geld und Ehre. - Wir bestreiten Angaben von veröffentlichen Analyse-Ergebnissen, d.h. wir zeigen an, welche der farbigen Plus-Minus-Ladungen falsch ist.
Diese Aussage müssen wir jetzt wieder mit der neuartigen Smartphone-App verifizieren lassen und schon bekommt wir Geld und Ehre, während der Falsch-Veröffentlicher reichlich mit Schimpf und Schande bekleckert wird.
Wie schon gesagt, wir brauchten 5 Stunden für unser erstes Spiel, einschließlich Einführung. “Der Alchemist” hat schon etwas Faszinierendes an sich. Die eingebaute Logik ist high-sophisticated stimmig, das Spielmaterial umfangreich und qualitativ hochwertig. Die App für die Auswertung der chemischen Experimente ist witzig und es macht Spaß, sie zu bedienen. Aber das ist nicht alles.
Die Deduktion kommt entschieden zu kurz. Wenn man tatsächlich genau weiß, aus welchen Atomen sich ein bestimmtes Molekül zusammensetzt, dann ist diese Kombination gerade einem falschen Molekül zugeordnet und muss erst freigeschaufelt, d.h. angezweifelt werden. Was erstens Aktionen kosten und zweitens keinesfalls ein sicheres Unternehmen ist. Schlussendlich ist der Lohn einer sauberen Deduktion mit zuviel Workerplacement-Zufall und Chaos überdeckt. Wie sagte schon der Psalmist: „Unser Leben währet sieben Runden, und wenn es hoch kommt, so ist es doch bloß Mühe und Frust gewesen.“
WPG-Wertung: Aaron: 4 (Materiell eine Katastrophe, die Situation beim Veröffentlichen höchst unbefriedigend; das ist doch irre!), Günther: 5 (einschließlich eines Sympathie-Punktes für die App, die sehr schön und sinnig ist. Es fehlt eine Einführung ist die chemische Logik), Moritz: 5 (die Mechanismen sind solide, aber es gibt einfach Schwächen; die Kombination von Worker-Placement mit Deduktion ist nicht gelungen; Wenn wir das Spiel jetzt gleich noch einmal spielen würden, würde ich alles richtig machen, das Spiel würde mir trotzdem nicht gefallen), Walter: 6 (die Ingenieursleistung des Spiel-Autors ist 10 Punkte wert. Wenn man die Logik begriffen hat – habe ich leider erst in der Nach-Mitternacht-Diskussion – , können die verschiedenen Spielmechanismen, einschließlich eines gewissen Bluff-Elementes, ganz hübsch zusammenwirken.)
Warum Aarons Aussage zur „materiellen Katastrophe“: Zum Spielmaterial gehört für jeden Spieler ein Auswertezettel, in dem er sich die Ergebnisse seiner Experimente notieren und daraus Schlußfolgerungen ziehen kann. Dieser Zettel ist vom Farbdruck her sehr schlecht lesbar; alle älteren Semester, und das waren bei uns immerhin 75 % der Mitspieler, haben nach einer Lupe verlangt, um weiße Zahlen auf hellem Grund identifizieren zu können. Auch sonst wird man mit dem Auswertezettel, eigentlich dem Herzstück des Alchemisten, nicht richtig glücklich. Alles ist super, aber das Herz will einfach nicht schlagen.