1. “1846 – The Race for the Midwest”
Schon in der Vorwoche hatte Moritz für unsere heutige Runde mal wieder ein 18xx-Spiel vorgeschlagen, das brandneue „1846“. Ausgerechnet Moritz, der für diese Spiele mit nur 7 Punkten kleckert, während alle anderen mit 10 Punkten klotzen. „Ich wollte Euch mal wieder eine Freude machen!“ Wie zuvorkommend! Alle waren sofort Feuer und Flamme dafür.
Erst die angesagte Spieldauer von fünf Stunden ließ die Müter etwas abkühlen. Aaron und Günther recherchierten im Internet, verteilen Analysen zu den Unterschieden gegenüber der „1830“, und verschickten an jeden Mitspieler das 24-seitige Regelheft mit der Verpflichtung sich darauf vorzubereiten. Schließlich wollten wir uns die mindestens eine Stunde Einführung sparen.
Es ist immer wieder erstaunlich und faszinierend, was sich die liebhaberischen Väter neuer 18xx-Kinder alles einfallen lassen, um ihr Kind nicht nur anders, sondern auch besser aussehen zu lassen als die Brüder und Schwestern. Selbstverständlich werden auch lokale historische Gegebenheiten in das veränderte Spieldesign eingewoben. Zumindest propagiert solche das Regelheft. Darauf wollen wir hier aber nicht eingehen.
Wesentliche Unterschiede der „1846“ gegenüber unserer Best-of-all-Ever „1830“ sind u.a.:
- Auf die 10 Privatgesellschaften wird nicht mehr geboten. Stattdessen wählt sich jeder Spieler reihum aus einer jeweils eingeschränkten Auswahl eine Private aus. Das geschieht solange, bis alle Privaten genommen wurden. Erst dann decken die Spieler ihre gewählten Privaten auf und zahlen dafür. – Ein akzeptables Verfahren, aber die Freiheiten und die Taktiken der „1830“ um die richtigen Privaten und vor allem um den „Priority Deal“ sind dahin.
- Gesellschaften floaten schon, wenn das Director Share verkauft ist. Das gezahlte Geld geht in die Gesellschaft. Zur weiteren Finanzierung dürfen die Gesellschaften ihre Aktien an die Bank verkaufen. Das scharfe Kalkulieren der eigenen Börse, genauso wie das Feilschen um Beteiligungen entfällt.
- Es gibt vier statt drei Fortschritt-Phasen, in denen Züge verschrottet werden und Eigenschaften von Privaten verfallen.
- Zur Finanzierung von Zwangsloks darf eine Gesellschaft bei Bedarf ihre eigenen Aktien notverkaufen. Erst wenn auch dieser Erlös nicht reicht, muss der Direktor mit seinem Privatvermögen einspringen. Die Möglichkeiten, als Direktor bankrott zu gehen, sind fast eliminiert. Dafür würde ein Spiel bei einem solchen Bankrott auch nicht beendet werden: der Bankrotteur dürte weiterhin zusehen, wie die restlichen Spieler lustig weiterspielen.
- Gesellschaften müssen für Private immer den vollen Preis zahlen. Einem Ausblutenlassen einer Gesellschaft, bevor man sie einem Mitspieler vor die Füße wirft, ist damit ein deutlicher Riegel vorgeschoben.
- Der Verkauf von Minderheits-Aktien hat keinen Einfluss auf den Aktienkurs. Dieser Kurs sinkt nur dann, wenn der Direktor Aktien verkauft, und auch dann nur um genau eine Stufe. Die Spannung mit dem „Priority Deal“ beim Verkaufen „geiler“ Aktien ist total eliminiert, genauso wie das taktische Kaufen und Verkaufen von Aktien zur Kursmanipulation.
- Loks werden „ausgephast“, sprich sie fahren ein letztes Mal nach Anbruch der Phase, in der sie ausgemustert werden. Der technische Fortschritt schlägt also nicht so brutal zu, und Gesellschaften können die Finanzierung modernerer Züge risikolos bis zum letzten Augenblick aufschieben.
Aarons Fazit: „Alles in Allem also eher ein zahmer 18xx-Vertreter, bei dem es am meisten darauf ankommt, die richtigen Privaten mit den richtigen Gesellschaften mit den richtigen Einstiegskursen und den richtigen Strecken zu kombinieren.“ Alle sahen das genauso Die Robber-Barons mit ihren bösen kapitalistischen Machenschaften sind außen vor, die soliden Empire-Builders bleiben unter sich.
Unser beschleunigter Einstieg in eine neue 18xx-Welt wurde allerdings vom Münchener Verkehrsverbund torpediert. Der Bus, mit dem Moritz gewöhnlich zum Westpark fährt, war ausgefallen, und Moritz mit den ganzen Spielutensilien, traf erst eine Viertelstunde später ein.
Nach dem Spielaufbau und der Verteilung des nagelneuen Materials auf dem Tisch fehlten auf einmal fünf Aktien-Shares: drei Präsidenten und zwei Normal-Shares. Könnte es sein, dass ein Stanzbogen zu wenig in die Spieleschachtel eingelegt worden war? Wir suchten, staunten, suchten nochmal, wunderten uns – und stellten dann Ersatz-Shares her. Problemlos, aber es hatte nochmals 20 Minuten gedauert. Bis wir die vermissten Karten unter dem Spielplan fanden: mit ihrer fabrikneuen Glätte waren sie darunter gerutscht, bevor es ein Spieler auch nur wahrgenommen hatte.
Startspieler wurde Walter. Günther als Letzer in der „offiziellen“ Bankrunde durfte als Erster bei den Privaten zugreifen. Da er den geringen Einfluss auf die noch freien öffentlichen Linien fürchtete, wählte er die geographisch unabhängigen Mail-Contract und Meat-Packing-Company. Aaron griff bei der Indepenent „Michigan Southern“ zu, frei nach dem Motto: „Ein guter Go-Spieler spielt bei sich selbst.“, Moritz engagierte sich in Ohio und bei den Lakes, und Walter suchte sein Glück mit der Independent „Big 4“. Wenn man noch keine Ahnung hat, wie in „1846“ der Hase läuft, wo die ersten Pflaumen reifen und wo später die großen Gewinne gemacht werden, ist man bei der Auswahl 1 aus 6 in jedem Fall überfordert. Die Gesellschaften könnte man genauso gut rein zufällig verteilen.
Die Big-4 legt einen Ausbau nach Südwesten nahe, und so startete Walter mit der Illinois Central, Moritz gefiel der alte„1830“er Glanz der NYC, Aaron begann mit der Grand Trunk in der Nähe seiner Michigan, und Günther bekam die B&O, die in „1846“ aber keineswegs die Potenz von „1830“ hat.
Mit zwei Tiles pro Operation-Round und mit von Start weg zwei Operation-Rounds pro Bank-Runde, kam der Streckenbau zügig voran. Alle Gesellschaften forcierten auch unverzüglich den Lokomotiven-Einsatz, so dass Günther, als er mit seiner B&O zum ersten mal zum Einsatz kam, sich schon mit 3er Zügen eindecken konnte. Damit war auch die zweite Phase erreicht, grüne Update-Tiles standen zur Verfügung, und blitzschnell war ein Verkehrsnetz entstanden, das mehr oder weniger lückenlos den gesamten Midwest-Raum umfasste. Alle Linien waren mit allen anderen zusammengestoßen, hatten sich ergänzt oder blockiert, waren mit Token reserviert oder mit Nebenstrecken umgangen worden.
„Blitzschnell“ ist hier etwas euphemistisch ausgedrückt. Es bezieht sich lediglich auf die Anzahl der Runden die es brauchte, um den beschriebenen Entwicklungsstand zu erreichen. Aber jede einzelne Runde dauerte länger als ein komplettes „1830“ mit der Computer-Unterstützung von Helmut Ohley! Per Stoppuhr gemessen vergingen 19 (NEUNZEHN) Minuten und 44 Sekunden, bis Walters drei Mitspieler mit ihren vier Gesellschaften eine einzige Operation-Round durchgeführt hatten, und er mit seiner Illinois Central am Zug war. Inzwischen hatte Rostow gegen Bayern München zwei Tore geschossen und Manchester City gegen Mönchengladbach ausgeglichen. Was soll ein „1846“ Spieler auch anderes tun, als sich der Sportschau zuzuwenden, wenn er ansonsten zwanzig Minuten lang teilnahmslos nur den Erbsenzählereien seiner Mitspieler zusehen kann?
Es ist nicht spannend, was hier abgeht. Nach dem ersten Drittel des Streckenbaus sind die Fortschritte eher linear und langweilig. Es gibt kein New York mit dem sprunghaften Anstieg der Einnahmen. Jeder Städte-Update einer jeglichen Stadt in jeder Phase bringt die identischen 10 Dollar mehr ein, und da fast alle Gesellschaften von solchen Updates profitieren – einige hier, andere dort – gibt es auch keinen Ehrgeiz, hier noch irgendwelche Schnäppchen zu finden.
Nur Moritz hatte sich etwas zu spät auf die Socken gemacht und war von einer Ost-West-Passage mit den ausgelobten Zusatzeinnahmen abgesperrt worden. Verzweifelt bat er seine Mitspieler um Bauvorschläge, wie doch noch irgendwo-irgendwie die Verbindung herzustellen sei. Matt-in-einem-Zug-Lösungen gab es nicht, er musste schon mit einem Dreizüger rechnen, und richtig, nach zwei Operation-Rounds stand er auch schon vor der Erfüllung seines Herzenswunsches. Da – oh Schreck – fehlte genau das grüne Streckenteil, das er zum Anschluss brauchte; beide Teile waren schon an anderer Stelle verbaut. Großes Klagen und Anklagen seinerseits. Entschuldigung und Beschwichtigung der Ratgeber: „Damit muss man rechnen … Man kann doch nicht alles vorhersehen … Außerdem kann man die verbauten grünen Teile ja gegen braune austauschen, da stehen sie dann wieder zur Verfügung …!“ Moritz musste sich zwei weiteren Malocher-Runden unterziehen. Wie lange das – in Minuten ausgedrückt – dauert, ist ja bekannt. Er ging schon auf Mitternacht zu.
Moritz hatte das gewünschte grüne Streckenteil gerade ausgebaut und erwartungsvoll zur Seite gelegt, als Walters Blick darauf fiel und ihn der Hafer stach. Als echte oder vermeintliche Zukunftsinvestition, vielleicht aber auch nur aus Bosheit, nahm er das begehrte Stück und baute es an einer Nebenstrecke bei sich im Südwesten ein. Danach wäre es fast zum Eklat gekommen! „Unter diesen Umständen habe ich keine Lust mehr, weiterzuspielen.“ (Walter hatte übrigens schon seit einer geschlagenen Stunde dazu keine Lust mehr! Fast ein geschenkter Spielabbruch!)
Da griffen die Weiterspiel-Gierigen Aaron und Günther ein. Mit Akribie wiesen sie nach, dass das inkriminierte Stück Walter nur einen sehr fraglichen Zukunftsvorteil bringen würde. Mit Engelszungen überredeten sie ihn, diesen Bauzug rückgängig zu machen. Keine Rede davon, dass man bei den 18xx-Spielen nicht nur FÜR SICH, sondern auch GEGEN DIE ANDEREN baut. Walter ließ sich breitschlagen. Das Spiel ging weiter.
Noch über eine Stunde! Moritz bekam von Günther noch die ausgelutschte B&O zugeschustert, konnte Aaron seine NYC überlassen, und floatete noch die Erie. An der Einlaufsreihenfolge änderte sich dadurch nichts. Schon nach der Hälfte des Spiels hatte sich abgezeichnet, dass Günther gewinnen und Aaron Zweiter werden würde. Was denn sonst!
Moritz verpasste nicht nur die vorletzte, sondern auch die letzte U-Bahn nach Hause. Aaron machte ihm den Taxi-Chauffeur. Günther und Walter diskutierten noch bis fast zum Morgengrauen die Eigenleistung der „1846“ innerhalb der 18xx-Familie. Günther predigte einem Ungläubigen.
WPG-Wertung: Aaron: 8 (eine 18xx-Einstiegsversion), Günther: 9 (grundsätzlich bekommen alle 18xx-Spiele eine 9, nur die Königin „1830“ bekommt eine 10, Einsteigermodell), Moritz: 5 (zu clumsy, ohne dass es geil ist), Walter: 5 (5 Stunden Erbsenzählen! Wo ist der Gag, da es doch nur darauf ankommt – wie Aaron richtig bemerkt hat – die richtigen Privaten mit den richtigen Gesellschaften mit den richtigen Einstiegskursen und den richtigen Strecken zu kombinieren? Und dies ist nichts als eine ewige kleinkrämerische Rechnerei. Mit einer Computer-Unterstützung für die Strecken- und Geld-Verwaltung könnten es 8 Punkte werden, so aber nicht).
Zwei meiner verehrten Mitspieler, erfahrene „1830“-Spieler, haben hier konstatiert, dass „1846“ für Einsteiger in die 18xx-Familie geeignet ist. Woher kommt dieser Eindruck, der meines Erachtens total falsch ist? Das ist doch nur eine Zeitungsente!
- Es ist nicht „einsteigerisch“, wenn man vier statt drei Spielphasen noch einführt!
- Es ist nicht „einsteigerisch“, wenn man neben den normalen Strecken auch noch zusätzlich eine Ost-West-Passage auslobt!
- Es ist nicht „einsteigerisch“, wenn man alle Gesellschaften auf einmal aufeinander logehen läßt, anstatt sie in wohldosierten Abständen floaten zu lassen!
- Es ist nicht “einsteigerisch”, wenn man neben den immobilen Privaten auch noch mobile “Independent Railroads“ einführt, die mit Gleisbau und Operation sogleich in den öffentlichen Gesellschaftstrubel eingreifen.
- Es ist nicht „einsteigerisch“, wenn eine Gesellschaft zwischen 40 und 150 Dollar, also innerhalb einer Spannweite von 350% beliebig gefloatet werden kann, anstatt wie bei „1830“ zwischen 67 und 100 Dollar, also innerhalb einer Spannweite von nur knapp 50%!
- Es ist nicht „einsteigerisch“, wenn der Präsident die volle, die Hälfte oder gar keine Dividende ausschütten darf, und der Aktienkurs je nach der Höhe der ausgeschütteter Dividende in Relation zum Aktienkurs um 1 Stufe fallen oder bis zu 3 stufen steigen kann! Wie einfach hier hier hingegen ein “Alles oder nichts”?!
In “1846“ wurde ein potenter Kater kastriert und anschließend zu einem Tiger aufgeblasen. Die Aufforderung „teach me, tiger“, ist dann schon eher ein Hohn!
Lieber fünfmal mit „1830“ pleite gehen, als einmal in „1846“ gewinnen. Ersteres ist ganz leicht, das hat jeder Spieler mehr oder weniger selber in der Hand; letzteres ist sehr schwer, denn da steht Günther davor, wie der Erzengel mit dem Flammenschwert vor der verschlossenen Paradiestür.