“1848 – Australia”
Die reiferen Spielergenerationen, die uns noch unter dem Namen „1830 and more“ kennengelernt haben, wissen sofort, dass es sich hier um ein Mitglied der 18xx-Eisenbahner-Familie handelt. Helmut Ohley hat es 2007 als 72. Enkelkind gezeugt. Als Vater bzw. Halbvater war er mit den 18xx-Müttern und Töchtern auf vier Kontinenten insgesamt acht mal fruchtbar: von „1844-Schweiz“ über „1862-USA/Kanada“ und „1895-Namibia“ bis zuletzt nach „1848-Australia“.
Es gibt eine Menge Spielmaterial auf dem Tisch auszubreiten (unter anderem Luxus-Ausführungen von Geldscheinen, lieber Bernd!), deshalb ist auch das Spielbrett mit der Geographie Australiens bewußt klein gehalten worden. Von Sydney über Canberra nach Melbourne und Adelaide ist es nur ein Katzensprung. Die hier gegründeten Bahngesellschaften geraten unmittelbar aneinander, wo sie sich mit ihrem Streckennetz wie üblich ergänzen oder behindern können. Zu Spielbeginn sind vereinigten Netze auf jeden Fall ein Vorteil. Daraus folgt für eine 3er Runde die topologische Konsequenz: Schließen alle drei Spieler unverzüglich ihre Netze zusammen, so profitiert der Spieler in der Mitte. Schließen sich nur zwei Spieler zusammen und braut der dritte sein eigenes Süppchen, so kommt der Eigenbrötler lange nicht so gut aus den Startlöchern und muss mehrere Runden lang mit halb so hohen Einnahmen rechnen wie die Gemeinschaftsköche. Dieser Effekt ist beim weiter auseinanderliegenden „1830“ längst nicht so krass. – Wie weit das Eigenbrötler-Dasein später von Vorteil ist, steht auf einem anderen Blatt.
Was gibt es Neues in Australien? McGuffins hat eine Liste mit den Unterschieden zu „1830“ zusammengestellt und kommt dabei auf etwa 60 Punkte. Doch vieles davon ist spieltechnisch Pillepalle. Natürlich haben die Privatgesellschaften in Australien andere Eigenschaften als in den USA. Doch ob ich verbilligt über einen Hügel oder über eine Kaktusstrecke fahren darf, ob ich damit Präsident der Baltimore & Ohio oder der Central Australian Railway werde, ist mehr oder weniger identisch.
Der Kontinent ist in vier Regionen mit unterschiedlicher Spurweite eingeteilt. Der Übergang von einer Spur auf die andere kostet Reichweite. Das spiegelt vielleicht die Realität in der Entwicklung der australischen Eisenbahnen wieder, doch die spielerische Kosten-Nutzen-Relation für dieses zusätzliche Regeldetail ist nicht überwältigend. Auch ein neuer Zugtyp, „The Ghan“, der nicht den Verschrottungsbedingungen und dem Lok-Limit unterliegt, und mit dem man lediglich Alice Spings in Zentral-Australien anfahren kann, ist schön und liebevoll ausgedacht. Doch angesichts der ohnehin schon 32 Seiten Spielregeln wäre für den nüchternen Eisenbahn-Aktionär in jedem Fall weniger gleich mehr.
Ein absolut neues Element, das die wirtschaftlichen Effekte der Eisenbahngesellschaften revolutionär verändert, ist die „Bank of England“. Bei ihr kann jede Linie Geld aufnehmen und braucht es während des ganzen Spiels nicht zurückzuzahlen. Der einzige Nachteil dieser Kredite ist ein Kursverlust der Gesellschaft. Und wenn ihr Kurs unter einen Grenzwert sinkt, so kommt sie unter die Zwangsverwaltung der Bank of England und hat für die Anteilseigener aufgehört zu existieren. Immerhin kann daher durch noch so schlechte Behandlung einer Linie der Präsident oder dessen Nachfolger niemals in Konkurs getrieben werden. Ein klares Bekenntnis für die Empire-Builder und gegen die Finanz-Haie.
„1848“ spielt sich wie die meisten „18xx-Mitglieder: Besitzstand der Spieler und der Gesellschaften wachsen langsam und gleichförmig an (Widerspruch zur oben angedeuteten topologischen Asymmetrie) und die Vorkaufskarte bleibt mehrere Runden in einer Hand. Ist auch nicht so wichtig, da Manipulationen mit Linien und Aktien nicht opportun sind. Dann fängt das Chaos an: Ein begehrtes Gleisteil ist verbraucht, die Züge verschrotten mit atemberaubendem Tempo, die Kurse und das Potential der Gesellschaften verschieben sich durch Verkäufe, 100%-Investition, Einsparungen – und bei „1848“ auch noch durch die Darlehen bei der Bank of England – in einem bunten Gewurl.
Das Streckennetz ist in seinen Gesamt-Effekten nur schwer überschaubar. Für das kleine, enge Australia gibt es zu viele Bahnhofsmarker, mit denen die Gesellschaften ihre Strecken abschotten können. Bei „1830“ ist dies eine Mangelware, in unserer 1848-Runde dagegen hatte fast jede Gesellschaft bis zum Spielende noch mehrere Marker übrig.
Das harte Aktienlimit löst Orgien von Aktion-Umverteilungen aus. Welches sind die besten Linien in der Hand der Konkurrenten? Das ist nicht auszumachen; es liegt völlig in der unkalkulierbaren Ambitionen-Willkür der Präsidenten. In der aller-vorletzten Betriebsrunde kaufte Aaron für seine Federal Territory Railroad noch eine Diesellok, die erste des Spiels, und setzte damit alle 4er-Züge außer Gefecht: „Man muss schließlich mal alle Elemente ausprobieren.“ Dadurch verloren seine eigenen und vor allem Günthers stolze Linien einen erheblichen Teil ihrer Einkünfte; zwei Linien gingen sogar noch in Konkurs und die Bank of England machte glänzende Geschäfte. Unerwartet für Günther, der von vorneherein mit dieser Bank geliebäugelt hatte, sich kurz vor Spielende aber von allen ihren – vermeintlich ausgelutschen – Aktien getrennt hatte.
Bilanz nach sechs Stunden Spielzeit: Aaron hatte (in der allerletzten Betriebrunde) die höchsten Rundeneinnahmen, Günther das meiste Bargeld und Walter das größte Aktienvermögen. In der Summe reichte es für unseren ungekrönten 1830-König Günther. Trotz seiner Fehler. Aber welche König ist schon unfehlbar?
Aarons Understatement am Ende: „1848 – Australia“ ist kein mißratener Sproß der 18xx-Familie.
WPG-Wertung: Aaron: 8 (absolut gesehen eine sehr gute Note, aber eine Reduktion innerhalb seiner 18xx-Wertungen: die zusätzliche Komplexität zahlt sich nicht aus), Günther: 9 (immerhin ein 18xx-Spiel), Walter: 9 (hat dem Spiel nicht angelastet, dass es innerhalb der genialen 18xx-Familie einen schweren Stand hat)
Zum Schluß noch einige Fragen an den Helmut: Wie lange hast Du an „1848 – Australia“ gearbeitet? Welches ist eigentlich Dein innerer Beweggrund, immer wieder viele Wochen, Monate oder gar Jahre an einer neuen 18xx-Variante zu arbeiten? Und die wirtschaftliche Seite: Wieviele Exemplare wirst Du von „1848“ verkaufen? Kommst Du auf einen Stundenlohn von mehr als 1 Euro? Aber die Frage nach dem Stundenlohn dürfen sich wohl 99,9% aller Spiele-Erfinder nicht stellen. Es geht um den Spaß an der Freud!
2. “Brainrun”
So zwischen 1 und 2 Uhr AM stellte Aaron noch eine Essen 2011-Neuheit vor. Ein Wissensspiel nach der Art von „Trivial Pursuit“. Mit ein bißchen Taktik, Technik und Kampf.
Aus verschiedenen Wissensgebieten werden einfache, schwierige, Entscheidungs- oder Schätzfragen gestellt. Zu jedem Wissensgebiet muss man mehrere Fragen richtig beantworten, um das entsprechende Farb-Kärtchen zu bekommen. Mehrere Karten eines Wissensgebietes kann man gegen eine Karte eines anderen Wissensgebietes eintauschen.
Man kann einem Mitspieler den Kampf um eine Karte in dessen Besitz ansagen: Dann wird eine Schätzfrage gestellt (z.B. Wieviele Söhne von Adam und Eva sind in der Bibel namentlich erwähnt?), und wer mit seiner Schätzung am besten liegt, bekommt die Karte. Man braucht also nicht auf alles Wissensgebieten beschlagen zu sein, um das Spiel gewinnen zu können.
Solche mehr oder weniger „Unterhaltungsspiele“ liegen nicht im Zentrum des Interesses am Westpark. Walter wird „Brainrun“ am Wochenende der „Spiel 2011“ zu seinen Verwandten nach Essen mitbringen und unter den dortigen Quiz-Liebhabern austesten, wie diese Prinzipien ankommen.
Keine WPG-Wertung.