„Der Charakter einer Nation spiegelt sich nirgends aufrichtiger ab als in ihren Spielen: keine Veränderung in diesen, die nicht entweder die Vorbereitung oder die Folge einer Veränderung in ihrem sittlichen oder politischen Zustande wäre.“ (Christoph Martin Wieland, 1733 – 1813)
Der gute Mann lebte offensichtlich lange vor der Zeit der Globalisierung.
1. “Belfort”
Für Essen 2011 war das Spiel der kanadischen Autoren Jay Cormier & Sen-Foong Lim mit viel Vorschußlorbeeren angekündigt, dann aber doch nicht rechtzeitig fertig geworden. Umso größer waren die Erwartungen, als es dann endlich erschien. Aaron wollte zugreifen, Horst hat zugegriffen. Heute kam es erstmals bei uns auf den Tisch.
Wir haben es mit „einem der tausend Workerplacement Spiele” zu tun, die den geplagten Spiele-Redakteuren großer Verlage ununterbrochen das Haus einrennen. An diesem Spielcharakter ändert sich bei „Belfort“ auch nichts, wenn unsere Arbeiter „Elfen“ und „Zwerge“ heißen, und wir „Gnomen“ einsetzen müssen, um unsere Einnahmequellen kräftiger sprudeln zu lassen.
In sieben Spielrunden zu je fünf Phasen
- werben wir Arbeiter an.
- lassen wir unsere Arbeiter Rohstoffe und Geld nach Hause tragen.
- tauschen wir unseren aktuellen Rohstoffbesitz in die benötigte Zusammensetzung um.
- kaufen wir Baugenehmigungen
- bauen wir Gebäude, „Gilden“, Türme und Festungen in den fünf verschiedenen Städten, und versuchen damit Mehrheiten zu bekommen, die in drei Wertungen honoriert werden.
- kassieren wir die Einnahmen für unser aktuelles Besitztum.
- zahlen wir linear steigende Steuern für unseren Besitz
Beim Nutzen von “Gilden” erhalten wir Vorteile in Form von Rohstoffen oder Geld. Das ist ja noch in Ordnung. Doch es gibt auch z.B. eine „Diebes-Gilde“ oder eine „Banditen-Gilde“, die es erlauben, einem beliebigen Mitspieler Geld oder Rohstoffe entschädigungslos wegzunehmen. Herrschaftszeiten, sterben denn solche unberechenbaren, anstößigen, willkürlichen Spielelemente mit Kingmaker-Potential nicht aus?!
Walter wurde Startspieler und belegte sofort das einzige Feld, auf dem man weitere Belegschaft anheuern darf. Es ist ja schon seit Marxens Zeiten ein triviales Wissen, dass die Erweiterung der Produktionsmittel eine exponentialle Steigerung der Erträge mit sich bringt. Je früher desto ponenter.
Kein Mitspieler opferte Personal, um Walter diese Startspielerrolle zu nehmen, so dass er sich auch in der zweiten Spielrunde noch einen Arbeiter zulegen konnte. Diesmal schon quasi umsonst, da er ja mit dem zusätzlichen Arbeiter aus der ersten Runde bezahlt werden konnte. Dann erst griff Aaron ein und reservierte für sich die Startspielerrolle. Walter kam ans Ende der Zugreihenfolge. Doch das war für ihn zu diesem Zeitpunkt eher ein Geschenk: In einem Spiel, in dem an allen Ecken und Enden Mehrheiten honoriert werden, erlaubt es ein besonderes Schwelgen im eigenen massigen Einsatzpotential, wenn man als Zug-Letzter überall die Zünglein an der Waage zu seinen Gunsten umkippen lassen kann. Runde für Runde baute er diesen Vorteil zu einen uneinholbaren Vorsprung aus.
Nach der dritten und der vierte Runde bot er jeweils einen Spielabbruch an. Immerhin hatten wir bereits anderthalb Stunden gespielt und das Spiel ausreichend kennengelernt. „Es ändert sich nichts mehr!“ Aaron unterstrich leicht frustriert : „Es ändert sich seit der ersten Runde nichts mehr!“ Trotzdem warfen beide abgeschlagenen Konkurrenten nicht das Handtuch, sondern bissen tapfer die Zähne zusammen und tranken das Belforter Met bis zur bitteren Neige.
WPG-Wertung: Aaron: 4 (Hat leider so gar nichts, was mich vom Hocker reißt, keine neue Idee, ungelöste Startspieler-Problematik, dass die führenden Spieler „Strafsteuern“ zahlen müssen – ein vergeblicher Versuch, die fehlende Balance zu retten – , ist „fast peinlich“.), Horst: 5 (belanglos; „im Fußball würde ich sagen, es läuft unrund“), Walter: 5 (einschließlich eines Sympathiepunktes für das Brettspiel-Entwicklungsland Kanada: das Spiel funktioniert, aber plätschert emotionslos vor sich hin.)
Wir mußten die Tür zum Spielzimmer nicht schließen, um die Ohren der Hausfrau vor unseren orgiastischen Begeisterungsstürmen zu schützen. Es gab keine. Nicht einmal einen Lacher.
Bei Boardgamegeek steht “Belfort” in der ewigen Bestenlisten unter sechzigtausend Spielen mit vorzüglichen 7,47 Punkten in 1972 Bewertungen an 119ter Stelle. Schauen wir mal hin, wie die Höchst-Noten-Vergeber ihre Euphorie kommentieren:
Melissa: „From my mom for Xmas – 2011!” – Pietät oder Einfältigkeit?
Rick: “Any game my wife likes and plays… I love.” – Gelten Rick’s 10 Punkte jetzt für das Spiel oder für seine Ehefrau?
Simon: ”It is astonishing how well the theme works in this game.” – Horst hat uns bei seiner Regeleinführung das Thema total unterschlagen. Jetzt erst, beim Verfassen des Reports suchte ich das Thema in der Spielanleitung, und was finde ich? Den lapidaren Satz: „In Belfort lassen die Spieler ihre Mannschaften aus Elben und Zwergen unterschiedliche Aufgabe erfüllen.“ Mann-o-mann, ist das ein Thema! Man kann die Elfen regelrecht trapsen hören! Horst hat uns gewaltig etwas vorenthalten.
Boom: “I adore Belfort and might want to marry it. Maybe someday when that’s legalized …” – Jetzt mußte ich doch glatt bei Wikipedia nachschauen, ob „Boom“ und „Belfort“ Mädchen- oder Jungennamen sind, und ob in Kanada die Homoehe schon erlaubt ist …
Wir am Westpark gingen eher konform mit den Kommentaren am unteren Ende der Skala. Godonow vergab 5 Punkte für “beautiful but booooring” Für Eric war Belfort als ”too long and too slow-paced for my taste” nur 4 Punkte Wert und Dvonn bildete mit seinen 3 Punkten für “absolutely no dynamics” keinesfalls das Schlusslicht.
2. “Pergamon”
Nein, wir sind keine alten Griechen, wir leben in der Neuzeit und lassen uns vom Forschungsministerium Gelder auszahlen, um auf dem Boden der antiken Stadt Pergamon Ausgrabungen durchzuführen.
Fünf Stollen stehen als Fundstätten zur Auswahl. Pro Runde dürfen wir einen davon ausbeuten. Die Stücke in den Stollen kommen peut-a-peut ans Tageslicht. Wenn in einem Stollen mangels Interesse nicht gegraben wird, häufen sich dort die Fundstücke. Mit den Fundstücken bestreiten wir Ausstellungen, die periodisch (mit Siegpunkten) bewertet werden. Die Ausstellungen bleiben für mehrere Wertungen erhalten, verlieren aber im Laufe der Zeit, vor allem aber auch bei der Präsentation höherwertiger Ausstellungen ständig an Wert.
Bemerkenswert ist das Einheimsen der Forschungsgelder. Wir wissen nicht genau, wieviel der Minister zu spendieren bereit ist, wir kennen nur die Größenordnung seiner Dotierung: 2 bis 8, 6 bis 12 oder 10 bis 16 Forschungsdollar werden pro Runde ausgeschüttet. Wer bescheiden ist und nur wenig fordert, wird als Erster bedient und darf sich auch als Erster einen Stollen aussuchen; wer viel bzw. am meisten fordert, bekommt den Rest des Geldes – viel oder auch gar nichts, je nachdem wieviel Gelder insgesamt zur Verfügung standen – und darf als letzter seinen Spaten in die Hand nehmen.
Von unserem eingereichten Forschungsauftrag hängt auch ab, in welchen Stollen wir graben dürfen. Um z.B. in dem tiefsten Stollen mit den aktuell meisten Fundstücken zu graben, müssen wir schon eine erkleckliche Summe an Forschungsgeldern fordern. Es sei denn, wir schießen dafür aus eigener Tasche zu.
Es ist ein hübsches Lavieren um die Höhe der geforderten Gelder, um die Priorität bei Graben, um die Anzahl, den Zeitpunkt und den Wert der Ausstellungen, und um die nächste Startspieler-Position. Schnell, pfiffig und ausbalanciert. Eine gelungene Mischung aus Glück, mittelfristiger Planung und opportunistischem Zugreifen.
WPG-Wertung: Aaron: 6 (solide; netter Bietmechanismus), Horst: 7 (kurz, flott, kein Schweißtreiber), Walter: 7 (spielerisch mit kalkulatorischen Einlagen, hübsche neue Ideen – oder zumindest alte Ideen im neuen Gewand – gut präsentiert.)
3. “Diggers”
Aarons Eigenentwicklung eines flotten, spielerischen, planerischen Kartenspiels mit einem Höchstmaß an Interaktion hat bei uns höchste Anerkennung gefunden. Doch bei den professionellen Verwaltern von Lieschen Müllers Feld-Wald-Wiesen-Geschmack ist seine feine Balance zwischen Zufall und Berechnung noch nicht erkannt worden: „Für ein Glücksspiel zu viel Planung, für ein Planspiel zu viel Glück!“ lautete ein Bescheid.
Aaron hatte nun zusammen mit seinem Autoren-Kollegen Frank versucht, Lieschen Müller mehr gerecht zu werden und neue Zufalls-, Chaos- und Miesnickeligkeits-Komponenten einzubauen. Bei uns fiel er damit durch. Nach zwei Runden war Walter nicht länger bereit, mit diesen neuen Regelvarianten weiterzuspielen. Das Spiel ist perfekt, so wie es war. Lieschen Müller ist es nicht.
Keine WPG-Wertung für ein Spiel in der Entstehungsphase.
Gruss
Hallo Ulf, falls Du das hier liest: Viele Grüße an Dich, an Frau Heusinger und Deinen BC Nürnberg Museum.