Im Westpark sammelten sich ungezählte Freunde des Sternenhimmels, um bei Sekt und Kaviar das seltene Schauspiel einer totalen Mondfinsternis zu genießen. Auf der Terrasse am Westpark sammelten sich fünf Freunde vom Brettspiel, um bei Rotwein und Gummibärchen den wöchentlichen Spielabend zu absolvieren.
1. “Die Nomaden”
Der Spieleautor Maximilian Thiel („Macht$piele“) hat uns mal wieder beehrt und seine „Nomaden“ mitgebracht, die vor ca. einem Jahr bei uns gut angekommen sind, von den professionellen Verlegern aber nur unflätige Kommentare geerntet haben.
Jetzt ist es an vielen Stellen nach den Vorgaben der Profis überarbeitet worden. Es gibt noch keine gedruckte Spielregel, aber der Autor konnte sie natürlich aus dem ff mündlich darlegen. In 30 Minuten war er durch. Bei später nachgeschobenen Details gab es keinerlei Widersprüche, schließlich spielte Maximilian ja nicht mit, so dass pro-domo Verschiebungen ausgeschlossen waren.
Jeder Spieler führt immer noch ein Nomadenvolk über die Felder des Spielbretts und möchte mit ihm die siegpunktträchtigste Entwicklung hinlegen. Wir bewegen Häuptlinge, Familien, Clans und Stämme, besetzen Quellen, die uns verschiedenerlei Rohstoffe liefern, besetzen Märkte, auf denen wir Rohstoffe in passende Kombinationen tauschen, besetzen Entwicklungsfelder, in denen wir unser Volk qualitativ oder quantitativ erweitern können, und besetzen Aktionsfelder, in denen wir unseren Besitzstand in Siegpunkte umwandeln können.
Eine der Herausforderungen bei den „Nomaden“ sind die schlechten Jahreszeiten, in denen es keine Nahrung gibt. Entweder laufen wir mit allen unseren Familienmitgliedern diesen Jahreszeiten davon, oder wir besorgen uns in den fetten Monaten ausreichend Getreide, um damit die mageren Monate zu überstehen. Die ständige Flucht vor dem Winter läßt durchaus Nomadenstimmung aufkommen.
Wer meint, seine Leute ausreichend gut positioniert zu haben, beendet die Bewegungsphase und bekommt dafür den „Schamanen“. Mit diesem Privileg kann er die Erträge an ausgewählten Rohstoffquellen erhöhen bzw erniedrigen, oder er kann den Nahrungsbedarf innerhalb einer Jahreszeit modifizieren. Damit kommt ein bißchen Chaos in das ansonsten streng planbare Spiel: Wer sich gerade einen festen Zuwachs an Ziegen oder Kamelen ausgerechnet hat, muß dann bei einem miesnickelig plazierten Schamanen durch die Röhre schauen, oder der größere Hunger seiner Familienmitglieder frißt ihm die Siegpunkte vom Kopf.
Es gibt eine Menge zu beachten, um Rohstoffbesitz, Rohstofferwerb und Rohstoffbedarf an den ausgewählten Konvertierungsfeldern in die richtige Konstellation gebracht zu haben. Mehr als einmal konnte man auf der Terrasse am Westpark den Seufzer hören: „Ich habe mich wieder vertan.“
Aber heute ging es ja weniger um das Gewinnen, als viel mehr um konstruktive Kritik an einem Spiel in der Entwicklungsphase. Ja, ausgereift sind die Nomaden noch nicht. Hübsch ist das Thema mit dem Zwang zur Familien-Bewegung. Es dauerte aber mehr als die Hälfte der geplanten Rundenzahl, bis die Rohstoffquellen wirklich sprudelten und wir in unserer Entwicklung nicht mehr von der Hand in den Mund leben mußten. Dann kam Moritz mit seinem überlegen geplanten Spiel am besten aus den Startlöchern und entschwand mit seiner Nomaden-Familie in unerreichbare Ferne. Sollte im Spieldesign das frühzeitige Unerreichbar-Sein nicht vermieden werden?
Manche der progressivsten Spielelemente kamen überhaupt erst in der letzten Runde und nur bei wenigen Spielern zum Zug. Daran muß noch gedreht werden. Uns fielen auch einige gute Ideen dazu ein. Angefangen von einer verbesserten Startausstattung zu Spielbeginn bis zu Nahrungs- und Bewegungshandcaps bei den bevölkerungreichsten Familien. Maximilian fuhr mit einem ganzen Rucksack voller Verbesserungsvorschläge wieder nach Hause. Und mit einer gewissen Enttäuschung über den nicht unerheblichen Entwicklungs- und Balancierungsweg, den er noch zurücklegen muß.
Und mit einer Enttäuschung über seinen Freund Horst, der von den drei Stunden Spiel- und Diskussionszeit „total erschöpft“ war und zum ersten Mal am Westpark in der Stunde vor Mitternacht nach einer Tasse Kaffee verlangte.
Noch keine WPG-Wertung für ein Freak-Spiel mit Potential.
2. “Bluff”
Im ersten Spiel beim ersten Wurf hatte Moritz fünf (!) Sterne unter seinem Becher. Zum ersten Male in seinem Leben; zum ersten Male in unser aller Leben. Schließlich klappt das durchschnittlich nur alle 7776 mal. Und wenn wir pro Spielabend zwei Durchgänge Bluff spielen, dauert es etwa 80 Jahre, bis so ein Wurf zustande kommt.
Sein Super-Wurf half ihm aber nichts. Er mußte dafür trotzdem einen Würfel abgeben. Und mit ihm noch drei weitere Mitspieler!
Im zweiten Spiel hob Moritz beim ersten Wurf nach den Vorgaben 7 mal Fünf, 4 mal Stern, 8 mal Fünf und 9 mal Fünf auf 5 mal Stern. Das kostete ihn gleich alle seine fünf Würfel. Unter 25 Würfeln gab es keinen einzigen Stern. Wenn Excel richtig gerechnet hat, kommt das durchschnittlich etwa jedes 100ste mal vor. Dazu braucht man dann nur noch knapp ein Jahr wöchentliches Spielen.
Offen ist die Frage, wieviele Jahre man am Westpark „Bluff“ spielen muß, um im ersten Spiel 5 Sterne zu würfeln und im zweiten Spiel mit der Vorgabe 5 mal Stern gleich nach Hause gehen zu müssen?
Keine neue WPG-Wertung für ein Super-Spiel.
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23.06.2010: Spielen gegen Ghana
„Nach dem Spiel bleiben die Verlierer wie begossene Pudel zurück und denken über ihre Fehler und verpaßten Chancen nach. Die Meute von Zuschauern und Reportern geht mit den Siegern, zupft sie von vorne oder hinten am Trikot, um einen Blick oder Kommentar zu erhaschen. Die Sieger gehen weiter und nehmen den Trubel um sie herum kaum wahr. Sie drücken dem einen oder anderen flüchtig die Hand, damit er Ruhe gibt und sie sich aus dem Gedränge in die Kabinen retten können.“
(Dante, Purgatorium, Sechster Gesang, ca. 700 Jahre vor der Fußballweltmeisterschaft in Südafrika;
wahrscheinlich konnte Dante sich gar nicht vorstellen, daß nach einer 1:0-Niederlage selbst der Verlierer glückstrahlend vom Feld gehen kann.)
1. “Die Nomaden”
Das Spiel ist noch nicht erschieden. Noch nicht einmal der Verleger steht fest. Maximillian (der von „Macht$piele“) hat es erfunden und bis zur Prototyp-Reife ausgearbeitet; heute kam er bei uns am Westpark vorbei, um es testen zu lassen.
Wer den Autor von „Macht$piele“ im Internet nachschaut, wird keinen „Maximillian“ finden. Dort versteckt er sich unter dem Pseudonym „Bauldric & Friends“, wie bei seinen anderen Spiele auch. 12 Stück hat er augenblicklich in der Mache. Für Idee und die Basisversion braucht er nur wenige Tage (!), wenn nicht sogar Stunden (!!). Bisher haben wir immer geglaubt, eine Spieleentwicklung müsse Jahre dauern. Offensichtlich geht es auch schneller.
Allerdings dauert es dann doch noch Monate, bis ein Verlag die Idee übernommen, das Thema nach der eigenen Verlagsphilosophie adaptiert und das Spiel serienfertig auf den Markt gebracht hat. Manchmal kennt der Autor dann sein eigenes Spiel nicht mehr wieder. So ging es Max auch mit seinem jüngsten Kind, das demnächst bei Hans-im-Glück erscheint. Aus dem Erwerben von liebreizenden Damen (mittels Blumen, Diamanten und flotten Sprüchen) wurde das Zusammenstellen einer Tierfarm (wahrscheinlich mit Möhrchen, doch die Details dazu haben wir nicht näher erfragt).
Max legt als kreativer Spieleerfinder (in Berufung aber nicht als Beruf) wenig Wert auf große Marktakzeptanz und hohe Verkaufszahlen. Sein Ehrgeiz ist es, bei Spielefreaks anzukommen und vielleicht einmal einen Spitzenplatz in den Charts bei Boardgame-Geeks zu bekommen. Seine grundlegende Konstruktionsidee ist Dynamik im Aufbau. Die Spieler sollen ihren Besitzstand entwicklen, aber nichts ist sicher, alles ist in Bewegung; Preise und Kosten hängen ausschließlich von den Interaktionen der Spieler ab. Dabei soll das Spiel samt Regeln nicht kompliziert sein, aber komplex. Voll dieser Richtung liegen seine „Normaden“.
Jeder Spieler führt ein Nomandenvolk durch die Jahreszeiten. Wir bewegen unsere Pöppel über die Felder jahreszeitlicher Regionen, vermehren uns, küren Häuptlinge, bauen Lagerplätze und Dörfer, ernähren unsere Bevölkerung, und ernten unsere Äcker. In den Frühjahr- und Sommerregionen bekommt wir die Nahrung umsonst. In den Winter-Regionen können wir die benötigte Nahrung nur mit Mühe zusammenkratzen. Da ist es manchmal besser, seine Pöppel in den Winterschlaf fallen zu lassen und sie erst wieder zu aktivieren, wenn der Frühling wieder da ist.
Um die fruchtbarsten Äcker zur besten Jahreszeit gibt es natürlich ein Gedränge. Nur maximal zwei Spieler dürfen einen Acker besetzen; für weitere Spieler ist das Betreten dann Tabu, es sei denn, ein sie kommen mit großer Mehrheit; dann können sie einen einzelnen fremden Spielstein verdrängen. Zwei oder mehr Spielsteine auf einem Acker (vom gleichen oder von verschiedenen Spielern) bringen höhere Erträge; d.h. das Betreten eines gemachten Bettes durch einen fremden Spieler ist nicht a priori verpönt, auch wenn die Erträge dann geteilt werden müssen.
Gemeinsamkeit macht sich auch in der „Schamanenphase“ bezahlt. Hier darf jeden Spieler einen Teil seiner Zugpotenz investieren, um die Wirtschaftlichkeit in einer Region zu modifizieren, z.B. höhere Erträge für alle oder aber auch größerer Nahrungsbedarf für alle. In Regionen, in denen viele Spieler anwesend sind, gehen die Modifikationen naturgemäß häufiger in die positive Richtung. Einer Regionen, in denen ein Spieler sich alleine engagiert hat, werden von der Mehrheit der Mitspieler mit großer Wahrscheinlichkeit die negativen Effekte aufgeladen.
So besitzen „Die Nomaden“ ein sehr komplexes Netz von gegenläufigen Abhängigkeiten:
– Schützt man sich durch paarweises Zusammenlegen seiner Pöppel vor Verdrängung, so geht das auf Kosten von Ertragsmaximierung.
– Wartet man mit „Tempozügen“ die Entwicklung der anderen ab, kann man hinterher darauf besser reagieren; allerdings sind manchmal dann schon die besten Plätze besetzt.
– Vermehrung schafft mehr Ernte- und Verdrängungspotential, erfordert aber auch mehr Nahrung und mehr Aktionspunkte beim Bewegen.
– Die Umwandlung von einfachen Nomaden in Häuptlinge löst das Ernährungsproblem, geht aber auf Kosten von Kopfzahlen.
– Auf welchen Äckern soll man sich engagieren? Einige Rohstoffe werden im Endspiel für hohe Siegpunkt-Einsätze benötigt, Nahrung hilft zum Überleben in den kalten Jahreszeiten und Aktionen (die ebenfalls auf Äckern „wachsen“) erlauben mehr Bewegung, mit denen wir den Winter-Regionen davonlaufen können.
– Soll man als Schamane seinen Handlungsspielraum opfern, um eine unglückliche Konstellation selber zu beseitign oder hofft man, dass dies ein Mitspieler tun, der noch mehr darunter leidet?
– und einiges mehr
Diese Abhängigkeiten sind so gut ausbalanciert, daß die verschiedensten Strategien zum Sieg führen können: Viele Aktionen, viele Nahrung, früher Bau von Lagerstätten und Dörfern. Selbst das oportunistische Mitschwimmen im Meer der möglichen Aktionen unter Ausnutzung des jeweils nächstbesten Zuges hat gewisse Siegchancen. Max wurde zu Beginn um seine eigene Strategie für heute gefragt. Er hielt sich bedeckt. Schließlich wollte er auch in einem Feld von Neulingen noch als Sieger hervorgehen, und dazu gehört unbedingt, daß keiner das strategische Vorgehen kennt und dagegen arbeitet. Doch für den Sieg muß die richtigen Strategie auch noch von einem ein konsequenten, fehlerfreien Vorgehen begleitet sein. Und das ist selbst bei längeren Analysieren und Planen nicht immer zu bewerkstelligen. Mit Freude konnten wir auch vom Autor solche Sprüche hören wie: „Was hab’ ich jetzt wieder für einen Scheiß gemacht!“
Dreieinhalb Stunden dauerte das Spiel (, ohne die gut einstündige mündliche Einführung). Bis zum Schluß blieb es spannend. Dazu trägt auch bei, daß einige langfristig vorbereitete Züge riesige Siegpunktmengen einbringen, und es nicht zu übersehen war, wer mit seinen Planungen am ehesten das erforderliche Limit überschreiten würde. Der Autor war’s! Knapp!
Jeder hätte noch länger an seinen Zügen herumrechnen können. Das ist vielleicht einer der Nachteile der „Nomaden“. Nicht immer hat man Zeit und Lust für ein dreistündiges Aufbauspiel. Doch das ist der einzige Nachteil!
WPG-Wertung: Günther: 6 (Einschränkung, weil das Spiel zu lange dauert; die Kompexität, auch wenn sie gut durchkonstruiert ist, ist an manchen Stellen gar nicht notwendig), Hans: 8 („auf jeden Fall“), Walter: 8 (eine Masse von hübschen Spielideen in eine runde Gesamtgestaltung gegossen) .
Die langen Denkzeiten waren heute kein Problem. Erstens gab es laufend etwas mit dem Autor zu diskutieren. Und zweitens gab es im Untergrund ein lebenswichtiges Fußballspiel, das im Life-Ticker und durch die Freudenschreie der besten aller Ehefrauen ständig für Abwechslung sorgte. Das ist vielleicht eine Möglichkeit, manche Denkerspiele für die Mitwelt überhaupt erst genießbar zu machen: Laßt im Hintergrund ein spannendes Nebenprogramm laufen (wenn keine Fußball-WM ist, tut’s vielleicht auch ein saftiger Porno), so daß die Auf-das-Ende-von-Denkprozessen-wartenden Mitspieler Ablenkung haben und zuweilen gar nicht erst zum Spieltisch zurückkehren mögen. Vielleicht kam man die notwendigen Bildbeiträge sogar gleich zusammen in der Spielschachtel ausliefern.