Für die „spielerische Linie“ eines Spiels gibt es wohl keine eindeutige Messlatte. Zu stark gehen hier die Vorlieben und sogar die Charaktereigenschaften eines Spielers ein. Um hier wenigstens annähernd einen sachlichen Anhaltspunkt dafür zu haben, möchte ich hier mal anführen, was das Internet hierzu liefert:
Synonyme für „spielerisch“ sind:
lässig, locker, leicht, sorglos, problemlos, zwanglos, unbekümmert, entspannend, unbeschwert, unernst, ungezwungen, unverkrampft.
Weiteres siehe unten.
1. “Delta Sigma”
Das ist noch kein fertiges Spiel, vielleicht wird es auch nie eines. Auch der Spiel-Name ist nur eine Hilfskonstruktion. Aaron wollte uns lediglich die Idee eines jungen (?) Autors vorsetzen und pries dieses Vorkosten nicht als „Prototyp testen“ an (eingedenk von Wilhelms Aussage: „Mein Leben ist zu kurz, um Prototypen zu testen“), sondern als einen „Test“. Was jetzt getestet werden sollte, die Spielidee oder unser Geisteszustand, das ließ er offen. Aber Tests des Letzteren sind ja allgemein beliebt, und für Ersteres sollte eine 30 Minuten-Lebenszeit-Investition auch für Prototyp-Verächter zumutbar sein.
Auf einer karierten Fläche mit einem definierten Ausgangsquadrat legen die Spieler reihum jeweils ein quadratisches Plättchen an. Das Anlegen ist reglementiert: die Plättchen müssen im Uhrzeigersinn und benachbart zum Vorgänger-Plättchen angelegt werden. Das Vorgänger-Plättchen darf ganz oder teilweise überdeckt werden. Jeder Spieler legt insgesamt zwei Plättchen, dann ist das Spiel zu Ende. Wer hat gewonnen?
Bei Spielende liegen an jeder Seitenkante des Ausgangsquadrates unterschiedlich viele Plättchen. In jeder Ecke jedes Plättchens steht eine unterschiedliche einstellige Zahl. Diese Zahlen sind eindeutig einer Ecke des Ausgangsquadrates zugeordnet. Aufgabe ist es, für jede des Ecke des Ausgangsquadrates zu schätzen, wie hoch die Summe dieser anliegenden Zahlen ist. Diese Schätzung wird aber nicht erst jetzt, oder irgendwann mal im Laufe des Spiel abgegeben, sondern alle Spieler müssen ihre vier Summen-Schätzungen bereits zu Spielbeginn geheim in ein Tableau eintragen. Wer hier dann am Ende nach einem oder mehreren Durchgängen die geringsten Abweichungen aufweist, hat gewonnen. Ein bisschen Kokolores mit Zahlen-Verdopplern und Minuspunkt-Erlassen ist auch bereits angedacht.
Ist das Spiel beherrschbar, im Sinne von berechenbar? Wer’s glaubt wird selig! Welche Ambitionen die Mitspieler für die vier Eck-Summen haben, ist a priori unbekannt, und wenn man nach dem ersten gelegten Plättchen zum ersten Mal ahnen kann, ob ein Mitspieler hier auf „hoch“ oder „niedrig“ gesetzt hat, ist der Zug bereits abgefahren. Der letzte Spieler kann die Bilanz für zwei Eckpunkte sowieso noch einmal massiv verändern, ohne dass die Mitspieler hier noch reagieren könnten.
Aaron ließ uns erst drei Durchgänge lang das erste von zwei Anlege-Reglements testen, dann das zweite. Hier warf sich aber bereits nach dem ersten Durchgang Wilhelm auf die Knie und flehte: „Mach’ End’, o Herr, mach’ Ende, mit aller dieser Not!“ Der Herr hatte ein Einsehen: alle waren mit einem Abbruch einverstanden! Soviel zu Aarons zweiter Frage, ob das Spiel Spaß gemacht hat und einen Wiederspielreiz besitzt. Das Spiel ist nur dann spielerisch, wenn man jegliche ernsthafte Ambitionen für treffende Vorhersagen aufgegeben hat, für alle Schätzwerte die leicht zu ermittelnden durchschnittlichen Zahlenwerte ins Tableau einträgt und den Rest abwartet wie den nächsten Regenschauer im deutschen Sommer.
Im innersten Kern dieser Spielidee liegt vielleicht noch ein gewisser Pfiff, doch das Drum-Herum ist mehr oder weniger reine Lotterie. Selbst für einen Aprés Ski an der Hotelbar ist es nicht geeignet. Da gibt es erstens keine karierte Fläche, und zweitens kann man im erforderlichen angesäuselten Zustand die jeweils zwei bis vier zugehörigen Plättchen-Zahlen auch nicht mehr sicher zusammenzählen. Ach ja, für Erstklässer-Übungen im Zahlenraum von 0 bis 50 durchaus geeignet.
Keine WPG-Wertung für ein Noch-Nicht-Spiel.
2. “Gold West”
Boomtown irgendwo im Wilden Westen. Donald Trump war schon da und hat sein Wahlversprechen eingelöst, die Gegend stolz zu machen. Und reich! Überall sprudeln reiche Siegpunktquellen und schütten ihr Füllhorn über uns aus. Überall lauern Früchte, die mit ehrlicher Hände Arbeit geerntet oder ganz selbstverständlich gestohlen werden wollen.
Offiziell sind wir “Prospectors”. Mein LEO übersetzt das mit „Goldgräber“, aber wir sind garantiert keine dreckigen Burschen, die 20 Yards unter der Grasnarbe ihre Schaufel schwingen. Wir sind Unternehmer und bauen Siedlungen, bescheidenerweise auch mal nur Zeltstädte, deren Schönheit in Länge und Breite und Lage bei Spielende prämiert wird. Falls wir dafür optiert haben. Wir lassen unsere Postkutschen auf den Linien Gold, Silber oder Bronze um die Wette fahren, und bekommen unterwegs abhängig von unserer Rennposition große Zwischenlorbeeren und/oder kleine Trostpreise. Wir bauen unseren Einfluss innerhalb der vier Goldgräber-Gewerkschaften aus und kassieren dafür bei Spielende dicke Diäten. Alles bringt Siegpunkte, manches mehr, manches weniger.
Der große, und sehr hübsche Motor des Spiels ist ein Kalah-artiger Zugmechanismus. Die Früchte (Baustoffe und Erze), die uns nach jedem Zug als Nebenprodukt regelmäßig in den Schoß fallen (wir können aus ca. 20 Arrangements – mit gewissen Nebeneffekten – beliebig wählen), müssen wir auf einem von vier Feldern unserer privaten Zugbahn ablegen. Beim nächsten Zug räumen wir ein beliebiges dieser Felder ab, laden auf jedem Feld der Zugbahn bis zum Ziel eine Frucht ab, und bestreiten mit den am Ende überschüssigen Früchten die Kosten unseres Zuges. Die Art der überschüssigen Früchte entscheidet auch darüber, ob wir unsere nächsten Früchte ehrlich erwerben oder stehlen. Stehlen wird am Ende bestraft. Aber nur ganz milde. Es scheint sich zu lohnen, grundsätzlich auf Ehrlichkeit zu verzichten, wenn man damit in Anzahl und Art der neu hinzukommenden Früchte Einbußen hinnehmen muss. Zumindest lagen unsere beiden Meisterdiebe Moritz und Wilhelm bei Spielende weit vorne. Wer von beiden schlussendlich gewonnen hat, hängt davon ab, ob wir einem der beiden Sieger erlauben, einen Spielzug, der mangels Regelverständnis nur suboptimal gemacht wurde, nachträglich durch einen optimalen Spielzug zu ersetzen.
WPG-Wertung: Aaron: 7 (es hat gefallen, ist aber zu fummelig; mit seinen vielfältigen siegpunkt-trächtigen Konstruktionen spielt es sich ähnlich wie „Russian Railroads“), Moritz: 7 (gutes Design, leider viel Rechnerei, man muss die gegebenen Gelegenheiten für eine Nischenstrategie nutzen), Wilhelm 8 (fast neun, man muss/kann überlegen, entscheiden, hat einen großen Handlungsspielraum mit mehreren möglichen Gewinnstrategien; eine anspruchsvolle Aufgabe, die in relativ kurzer Zeit – 90 Minuten – erledigt wird), Walter 7 (runde Ingenieursleistung mit einer üppigen Fummelei um Punkte, nicht sehr spielerisch [leichter Einspruch von Wilhelm]).
Hallo Wilhelm, welche der oben aufgeführten Synonyme von spielerisch würdest Du für „Gold West“ vergeben? Wer hier lässig, locker, leicht und unbekümmert vorgeht, wird garantiert Letzter. Es sei denn, alle gehen so vor.
3. “Divinare”
Vor gut drei Jahren, am 8. 5. 2013 haben wir das Spiel zum bisher ersten und einzigen Mal gespielt und allesamt einen sehr guten Eindruck gewonnen. Im damaligen Session-Report steht:
„Von den vier Farben rot, grün, gelb und blau gibt es insgesamt 36 Karten. Die Karten werden gemischt und 12 davon zur Seite gelegt. Jetzt gilt es zu erraten, wieviele Karten von jeder Farbe übrig geblieben sind.“
Im Grund ist die Vorhersage einer zukünftigen mathematischen Gegebenheit ganz ähnlich wie im obigen „Delta-Sigma“, aber welch ein Unterschied in der Präsentation und der daraus resultierenden Spielfreude!
- Wir müssen nicht nur einmal und zwar gleich zu Spielbeginn die finalen Werte raten, sondern wir dürfen unseren Schätzwert im Laufe des Spiels je nach den Geboten der Mitspieler anpassen. Zwischendurch dürfen wir auch einmal bluffen.
- Die möglichen Zahlenwerte besitzen nicht die enorme Schwankungsbreite zwischen 0 und ungefähr 50, die noch dazu der Spielerwillkür überlassen ist, sondern sie bewegen sind selbst im extremsten Extremfall nur zwischen 0 und 11, und liegen in der Regel nahe an wohlbekannten Mittelwerten mit geringen statistischen Schwankungen.
- Wir erfahren im Laufe des Spiel immer mehr über die tatsächliche Kartenverteilung, es kommt nicht so sehr darauf an, die richtigen Zahlen zu wissen, sondern den richtigen Zeitpunkt für seine endgültige Vorhersage zu wählen.
- Mit den letzten zu verteilenden Karten wird an den ausliegenden Stimmkarten nicht mehr viel verändert, aber man kann einen Mitspieler noch zwingen, eine supergute Schätzwert-Position aufzugeben. Eine hübsche Quelle spielerischer Schadenfreude. Wobei jeder Spieler aber auch gewisse Möglichkeiten hat, sich hiergegen noch abzusichern.
- Das Spiel ist an keinem Punkt eine öde Rechnerei, sondern immer nur ein lustiges Erahnen und Auszählen.
Garantiert gibt es noch viel mehr Unterschiede zugunsten der spielerischen Qualitäten von “Divinare”. Diese aufzuzählen wird unsere Leserschaft hiermit aufgerufen.
WPG-Wertung: Der bisherige Durchschnitt von 7 Punkte blieb erhalten, Moritz war mit 8 Punkten dabei (locker, spannend), während Wilhelm mit 6 Punkte Anstoß an der Glückslastigkeit nahm. Walter ist eher geneigt, wegen der absolut spielerischen Linie von „Divinare“ einen Punkt zuzulegen, aber dafür ist das Spiel wohl doch nicht „füllig“ genug.