Es war nichts anderes zu erwarten, es war ja auch nichts anderes mehr im Angebot, zumindest nicht in den Regalen der Jury von „Spiel-des-Jahres“.
Kennerspiel des Jahres 2015 ist „Broom Service“. Bei uns mit Pauken und Trompeten durchgefallen, oder – mit anderen Worten – 85,0393701 Prozent der von uns gespielten Spiele sind besser bewertet! Immerhin, Moritz kann es nicht oft genug betonen: „Ich fand’s gut!“ Aaron gestand ihm dafür dann zu: „Okay, du darfst die Pauken und Trompeten dirigieren!“
Spiel des Jahres 2015 ist „Colt Express“. Am Westpark kannte es nur Günther. Sein Kommentar: „Hatte ich ja schon befürchtet … Thema total, reines Gaudispiel.“ Vorbei ist in Deutschland die stramme, antimilitaristische Haltung der Nachkriegszeit. Vorbei die Anti-Kriegs-Kampfzeit der Polit-68er. Vorbei die Warnungen von dem grauenvollen Waffenalltag in den USA. Heute kann man sich mit Schüssen auf den Sheriff selbst in Deutschland auf den ersten Platz schießen.
Die „Brettspielbox“ schreibt: „Ziel ist es, die meiste Beute durch Stehlen der Geldsäcke, Diamanten oder Geldkoffer zu erlangen. Wer am Ende die meisten Patronen abgefeuert hat, erhält einen Bonus.“ Fazit: Ein echtes Familienspiel für das Jahr 2015. Die Jury von SdJ hat so entschieden.
1. “Digger”
In seiner Neu-Entwicklung hat sogar der Autor Aaron letzte Woche die Regeln durcheinander gebracht: Nicht der dickste macht den Stich, sondern der längste! Eine Prioritätenreihenfolge, die im wirklichen Leben ebenfalls noch höchst umstritten ist.
Heute prallten die Meinungen über die Sonderzüge, mit denen ein Spieler die Wertungen vertauschen, verschieben oder verdoppeln kann, hart aufeinander. Damit wird die lineare, logisch-psychologisch-kartenpflegerische Taktik weitgehend ausgehebelt. Die Grundversion kommt ohne alle diese Zugeständnisse an den Zeitgeist aus, und ist ein rundes, volles, stimmiges, gelungenes Spiel. Peter als Verfechter von bewährten „älteren guten Spielen“ lobte:
„Wenn alle neuen Spiel so wären, bräuchte ich keine alten!”
Nach diesen überschaubaren Spielmechanismen würde er dem Spiel 9 Punkte geben; mit den Sonderzügen reduziert er seine Wertung allerdings um (oder auf, je nach Stimmung) ein Drittel. Bei Walter wäre die Tendenz ähnlich.
Aber Aaron und der Verlag werden sich einen Dreck um die Meinungen am Westpark scheren; der Markt zählt!
Noch keine WPG-Wertung für ein Spiel in der Entstehungsphase..
2. “Fifth Avenue”
Günther wollte Peters Wunsch nach „älteren, bewährten Spielen“ nachkommen und hat ein zumindest „älteres“ Spiel mitgebracht, „Fifth Avenue“ aus dem Jahre 2004. Bewährt ist es bei uns noch nicht, keiner von uns hat es bereits gespielt, doch Aaron konnte immerhin beisteuern, dass das Spiel 2004 die „Essener Feder“ für die beste Spielregel erhalten hat. Peter durfte sie vortragen.
In einem klassischen Aufbauspiel bauen wir Hochhäuser in sieben New Yorker Stadtteilen plus dem Central Park, siedeln Luxus-Geschäfte in ihrer Umgebung an, und versuchen damit während des Spiels und in der Endwertung die meisten Siegpunkte einzuheimsen.
Als Standardzüge werden angeboten:
- sich mit Bauplänen für neue Hochhäuser zu versorgen.
- ein beliebiges Geschäft aus der offenen Auslage an einer beliebigen freien Stelle in New York zu plazieren.
- sich einen Joker-Geldschein von von der Bank zu nehmen.
- ein Stadtviertel werten zu lassen: Die vergebenen Siegpunkte ergeben sich aus der Anzahl vorhandener Hochhäuser multipliziert mit einem überproportional wachsenden Faktor für die Anzahl benachbarter Geschäfte.
Nach dem Standardzug darf sich ein Spieler noch zwei Nicht-Joker-Geldscheine von der Bank nehmen, und er muss einen der beiden “Kommissionssteine” versetzen. Innerhalb dieser Kommissionssteine liegt der (ganze!) Witz der “Fifth Avenue”.
- Die Kommissionssteine wandern in einem ewigen Turnus von Downtown bis zum Zentral-Park und zurück.
- Wenn man ein Stadtviertel werten lassen will, darf man nur solche Viertel werten, in denen ein Kommissionsstein steht.
- Wenn ein Kommissionsstein im Central Park steht und versetzt werden soll (muss), fliegt er mit einem Satz zurück bis nach Downtown; anschließend wird in allen Stadtvierteln, die der Stein vorher auf seinem Weg in den Central Park berührt hatte, ein Bauplatz versteigert.
Zum Bieten auf die verkäuflich gewordenen Bauplätze werden die farbigen Non-Joker-Geldscheine und die schwarzen Joker-Geldscheine eingesetzt. Der Meistbietende darf je nach Stückelung seiner Geldscheine ein bis drei Hochhäuser seiner Geldschein-Farbe bauen, die anderen Spieler gehen leer aus, brauchen aber immerhin auch nichts zu bezahlen.
Aber warum erzähle ich das alles? Eine Menge Details habe ich hier sogar noch ausgelassen! Läuft denn ein Spiel wirklich nach diesen umfangreichen, ausgefeilten Regeln ab? Leider nein!
Warum soll ich mir Baupläne besorgen? Um Hochhäuser zu bauen! Wenn ich aber keinen Bauplatz habe? Dann brauche ich auch keine Pläne! Diese Zugmöglichkeit wird sinnvollerweise auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben.
Warum sollte ich ein Stadtviertel werten lassen? Weil darin meine Hochhäuser und die benachbarten Geschäfte für mich eine besonders günstige Konstellation haben! Darf ich solches Stadtviertel werten lassen? Leider nur dann, wenn ein Kommissionsstein darinnen steht! Wird ein Kommissionsstein in einem für mich günstigen Stadtviertel stehen, wenn ich am Zug bin? Nein, das wird er nicht! Meine klugen Mitspieler werden einen solchen Stein am Ende ihrer Züge gefälligst versetzt haben. Insofern bietet sich das Stadtviertel-Werten-Lassen höchstenfalls für altruistische Masochisten an.
Soll ich den Zug wählen, der mir einen Jocker-Geldschein in die Hand gibt? Nicht schlecht! Aber wie gut? Kein wirklich zählenswerter Vorteil, denn das Geld zählt nur, wenn man es ausgegeben hat. Ausgegeben beim Ersteigern des Bauplatzes für ein Hochhaus. Dafür sind die Gelegenheiten allerdings sehr selten, und Geldscheine gibt es auch in den Händen der Mitspieler massig, so dass der Biet-Vorteil kaum messbar ist. Und das Ansiedeln eines Geschäftes in der Nähe meiner Hochhäuser ist kostenlos, dafür brauche ich überhaupt kein Geld.
Fazit: Als weitaus bester, wenn nicht gar als einzig sinnvoller Spielzug stellt sich heraus, ein beliebiges Geschäft in der Nachbarschaft zu einem bereits bestehenden, eigenen Hochhäusern anzusiedeln. ALLE Spieler werden das tun. Und da bei Spielbeginn jeder Spieler bereits zwei solcher Hochhäuser auf dem Spielbrett verteilen durfte, hat auch kein Spieler Schwierigkeiten, eine solche Nachbarschaft ausfindig zu machen.
Wenn wir das zwölf Mal getan haben, bei vier Spieler also jeder genau drei Mal, ist das Spiel zu Ende. Es kommt zur Schlusswertung und es werden diejenigen Spieler gewonnen haben, die die meisten Hochhäuser im Central Park gebaut haben. Warum im Central Park? Weil dort automatisch mindestens ein benachbartes Geschäft, mit großer Wahrscheinlichkeit sogar zwei bis drei benachbarte Geschäfte stehen. Unser Spiel war zu Ende, bevor es überhaupt richtig angefangen hatte. Anstelle der angegebenen 60 bis 100 Minuten Spielzeit waren wir in knapp 20 Minuten durch! Und das am Westpark!
Haben wir etwas grob falsch gemacht? Wir durchforsteten die beste Spielregel des Jahres 2004, und wir durchforsten die Einträge bei BBG! Dort fanden wir u.a. den Kommentar: “If you play it long, you play it wrong!” Nein, wir haben alles richtig gemacht, wir haben es nahezu in Rekordzeit über die Bühne gebracht. Das Spiel funktioniert schlichtweg nicht!
WPG-Wertung: Aaron: 3 (aus meiner Sicht broken; dazu – für die kurze Spielzeit – auch nicht ausbalanciert), Günther: 4 (komisch; Kooperation könnte das Spiel interessant machen, aber dazu bräuchte man eine Anleitung), Peter: 4 (weil es nicht so lang ist), Walter: 3 (eckige Mechanismen, habe das Schicksal nicht in meiner Hand).
Ein euphorischer 10-Punkte Kommentar bei BBG lautet: “Hurra, zum ersten Mal ein Spiel gewonnen!” Ist das der Geist, aus dem Qualität gemacht wird?
3. “Witches”
Letzten Monat lag das kleine, lockere Stichkarten-Spiel zum ersten Mal bei uns auf, und Aaron hat es bereits beschrieben. Diesmal waren Peter und Walter Neulinge, und sollten die positive Meinung („mehr Feinheiten als auf den ersten Blick erkennbar“) unterstreichen.
Walter kann dies aus voller (Bridge-)Überzeugung tun. Jeder Spieler erhält gleich zu Beginn seine vollständige Kartenhand und kann darüber grübeln, wie er sie am besten KOMPLETT abspielen wird. A la „Flaschenteufel“ darf er dann nach einer groben taktischen Vision drei „schlechte“, d.h. taktisch-unpassende Karten an einen Nachbarn weitergeben und bekommt entsprechend „unpassende“ Karten von einem anderen Nachbarn zurück. Jetzt macht sich bereits die Vision bezahlt, nämlich wenn man die empfangen Karten in seine Strategie (!) einbauen kann!
Merkt Euch die gefallenen Karten ALLER Farben! Wisst auf alle Fälle von jeder Farbe, ob (besser: wieviel) höhere oder niedrigere Karten, als ihr sie auf der Hand habt, noch im Spiel sind. Achtet auf die Exit-Karten, mit denen ihr sicher vom Stich gehen könnt! Macht auch mal einen unliebsamen Stich, nur damit ihr selber eure Problemkarten aus- bzw. wegspielen könnt, um hinterher in ein sauberes, stichfreies Endspiel übergehen zu können. All das ist in diesem Spiel drin, trotz oder gerade wegen der verklausulierten Bedeutungen der grünen Feuerkarten und der andersfarbigen Hexen und Zauberer.
Peter war nicht so sehr davon überzeugt: „Ich finde es nicht soooo unterhaltsam; zuviel entscheidet sich über die grünen Karten“!
WPG-Wertung: Aaron: hob seine bisherigen 6 Punkte auf 7 an, selbst Günther legte einen Punkt zu auf 7 („ich ändere äußerst selten meine Wertung“), Peter: 5, Walter 8 (einfach, stimmig, man macht Fehler, und das zeichnet doch ein großes Spiel aus!).