Moritz ist umgezogen, von der Ludwigsvorstadt in die Isarvorstadt. Schon vor einem halben Jahr. Jetzt sind die Baukräne und das Dixi-Klo vor seiner Haustür verschwunden und für viel Geld hat er seinen Vorgarten anlegen lassen. Und jetzt spielen draußen auf der Straße die Kinder Fußball und schießen alle zwei Minuten den Ball auf seinen frischen grünen Klee! Dann stürmen sie zu zehnt über die Hecke und treten alles krumm, was der Gärtner gerade gerade gemacht hat. Ist das nicht ärgerlich?
Würdet auch Ihr dann und wann den Kindern den Ball wegnehmen und Euch der Horde erboster Kindereltern aussetzen, die den Ball für ihre Frischlinge wieder rausgerückt haben wollen? Moritz war verzweifelt, doch am Westpark erntete er mit seinem Vorgehen nur bedingt Mitleid. Ausgerechnet unser jugendlicher Draufgänger läßt sich die Rolle des pedantischen Ballwegnehmers und Kinderschrecks aufdrängen? Da muß es doch noch eine andere Lösung geben!?
1. “Age of Industry”
Offiziell ein „Brass light“, d h. eine vereinfachte Version des Spiels „Brass“ vom gleichen Autor Martin Wallace. Entsprechend tröstet das Regelheft die Spielergemeinde: „die Regeln sind etwas kürzer“. Doch das scheint ein Trugschluß zu sein. 14 Seiten umfaßt die deutsche Spielregel, und wenn ich mich vor zwei Jahren nicht getäuscht habe, waren es damals bei „Brass“ bloß 11. Wer irrt hier wen?
Wir hatten alle nur noch eine schwache Erinnerung an das alte „Brass“ und Günther mußt die Regeldetails in aller Tiefe wiederholen. Es dauerte eine geschlagene Stunde, bis wir hier durch waren. Ab und zu mußten wir sogar auf die englische Version zurückgreifen, um zu verstehen, was gemeint war. Dazu ist es natürlich unglücklich, zwei verschiedene Spielbretter mit unterschiedlichen Spielelementen in einer einzigen sequentiellen Beschreibung abdecken zu wollen. Da werden Effekte beschrieben, die auf dem Spielbrett gar nicht vorkommen und die erst ein erfolgloses Suchen auslösen, bis man endlich merkt, daß man auf dem falschen Ufer ist.
Auch nach der ausgiebigen Regeldarlegung gab es ständig noch Regelunsicherheiten und Irrtümer. Selbst dem unfehlbaren Moritz unterlief eine Fehlplanung nach der anderen. Heute durfte er anstandslos alles zurücknehmen. Allein schon sein Schmuddelkinder-Andrenalinspiegel war mildernde Umstände wert.
Wie der Name schon sagt, spielt “Age of Industry” im Industriezeitalter und wir müssen Industrien (Eisen und Kohle) aufbauen, Eisenbahngleise legen, Häfen anlegen, Schifffahrtsverbindungen errichten und in diesem Netzwerk Waren erzeugen, zu den Verbrauchermärkten transportieren und dort in Geld und Siegpunkte umwandeln.
Gleich zu Spielbeginn gab es lange Gesichter: Wir haben kein Geld und müssen uns sofort auf dem Kapitalmarkt welches besorgen. Wir schwelgen nicht in Millionen, sondern wir darben bis zum Spielende am oder unter dem pekuniären Existenz-Minimum. Bemerkenswert hierbei, daß im Spielmaterial Kreditscheine bis zu 500 Dollar enthalten sind – und das bei Kosten für unsere Aktionen im Pfennigbereich!
Die Höhe des jeweils ausgegebenen Geldes bestimmt den Startspieler in der nächsten Runde. Das macht das Spiel zäh. Wir müssen nicht nur den Barverkehr abwickeln, wir müssen auch noch die aufgewendeten Summen registrieren. Dazu kommt das Handhaben der Kreditscheine und die Zinszahlungen. Lauter unnötige Vorgänge, die das Spiel verlangsamen.
Doch auch ohne diesen Geldverkehr verlief das Spiel ungeheuer zäh. Man kann nicht denken, wenn man nicht dran ist, sondern muß für seine Zugplanung das gesamte Mitspielerchaos abwarten, das uns von Runde zu Runde vor neue unvorhergesehene Spielzustände stellt.
Und dann zieht sich das Ende ewig hin. Wir haben schon fast keine Zugmöglichkeiten mehr, weil die Positionen auf dem Spielfeld schon alle vergeben sind, und das Kartendeck ist immer noch nicht aufgebraucht … Nach der einen Stunde Einführung brauchten wir noch weitere 2 ½ Stunden Spielzeit bis zur bitteren Neige. Ohne merkbare Steigerung an Spannung und Entwicklung. Schade. Das Original-Brass hat uns auf Anhieb gleich viel stärker angesprochen.
WPG-Wertung: Aaron: 6 (etwas entgeistert, wie sich das Spiel heute präsentiert hat), Günther: 6 (Findet das alte „Brass“ weiterhin schön; die Neuentwicklung war unnötig) Moritz: 4 („Das Spiel will ich nicht haben und nicht spielen! Ein abstraktes Rumgewixe“), Walter: 7 (Nur dann, wenn man es in einer kontemplativen Grundhaltung spielen kann.)
2. “Fresko”
„Ich brauche jetzt ein gescheites Spiel“ stöhnte Aaron. Mit „Fresko“, das es dieses Jahr bis in die Nominierungsliste zum „Spiel des Jahres” gebracht hat, sollte nichts schief gehen.
Wir sind Maler und müssen Farben kaufen, am gemeinsamen Fresco herummalen, mit privaten Portraits unsere Haushaltskasse aufbessern, die Farben für den nächsten Tag mischen, und uns am Abend noch ein bißchen zerstreuen, damit die Freude am Kunstschaffen gesteigert wird.
Das ganze läuft in engster Konkurrenz zu unseren Mitkünstlern ab. Schon allein die Uhrzeit, wann wir aufstehen um unser Tagewerk zu beginnen, unterliegt vielfältigen Überlegungen. Wer zuerst aufsteht, geht zuerst auf den Farbenmarkt und hat dort freie Auswahl. Allerdings sind dann auch die Preise noch sehr hoch. Wer erst am hellerlichten Tag dort auftaucht, kann die Farbreste zu Spottpreisen erwerben. Allerdings drückt das frühe Aufstehen auf die Schaffenskraft. Die Frühaufsteher sind mehr oder weniger davon abhängig, am Abend im Theater noch etwas zur eigenen Erbauung zu tun.
Das gemeinsame Fresko, an dem wir alle arbeiten, besteht aus einem Mosaik von Einzelteilen, für deren Fertigstellung wir jeweils Grundfarben und Farbmischungen in einer vorgegebenen Zusammensetzung bereit haben müssen. Damit erwerben wir das Mosaik und erhalten Siegpunkte sowie weitere individuelle Vorteile. Ist ein Mitspieler schneller beim Erwerb der notwendigen Farben, so schnappt er uns das Mosaik vor der Nase weg, und wir müssen uns ein anderes aussuchen. Das ist nicht ganz so peinlich, wie es sich auf den ersten Blick liest, denn die erworbenen Farben sind auch für andere Mosaikteile zu gebrauchen. Vielleicht aber hecheln wir mit unserem Farbbesitz auf der Bildfläche hin und her und jedesmal, wenn wir ein Mosaikteilchen ins Auge gefaßt haben, schreit unsere Vorgängerspieler: „ich bin schon da.“ Das gilt mit Sicherheit für die letzte Runde, wo nur noch ganz wenige Teilchen fertigzustellen sind.
Deshalb ist es enorm wichtig, vor der letzten Runde als erstes ziehen zu dürfen. Und dazu muß man in der vorletzten Runde die wenigsten Siegpunkte erworben haben. Genau dies ist die größte Herausforderung in „Fresko“: In jeder Runde immer genau soviele Siegpunkte zu machen, damit man in der daraus resultierenden Zugreihenfolge eine Position bekommt, in der man seine Ziele erfolgreich verfolgen kann. Ohne dabei natürlich total abgehängt zu sein!
Wir haben etwas frisch drauflos gespielt und so war es unvermeidlich, daß mehrere Spieler mehrmals zwischen der ersten und der letzten Spielerposition rochierten. Walter hielt dies für eine fehlende Balance im Spieldesign: Der Startspielervorteil ist zu extrem. Von Günther wurde dem eifrigst wiedersprochen: Die verschiedenen Mosaikteilchen seien in sich alle ausgewogen. Je höher die damit verbundenen Siegpunktzahl, desto schwieriger die benötigte Farbkombination. Und dies alles in einem mehr oder weniger linearen Zusammenhang.
Diese kontroverse Einschätzung bedarf zu ihrer Entscheidung unbedingt nochmals einer Spielwiederholung. Demnächst in diesem Theater.
WPG-Wertung: Aaron: 5 (der Spiel-Mechanismus hat Probleme), Günther: 8 (das Spiel ist stimmig), Moritz: 8, Walter: 6 (Der extreme Startspielervorteil paßt nicht zur planerischen Spiel-Ausrichtung)