1. “Living Forest”
In unserer WPG-Runde bei BGA schon dreimal gespielt, sollte das frisch gekürte Kennerspiel-des-Jahres auch mal in der Realität am Tisch seine Qualitäten zeigen.
Lassen wir wie gewohnt das Thema beiseite, nur Moritz wollte über die Naturgeister, den geweihten Baum und den Flammengeist aufgeklärt werden.
„Living Forest“ ist ein Deckbuilding-Spiel mit einem Can’t Stop Mechanismus. Jeder Spieler bekommt das gleiche Potenzkartendeck, die in den Kategorien
- Weitere Potenzkarten kaufen
- Bäume kaufen
- Feuer kaufen
- Schritte auf einem Kreiskurs absolvieren
- Heilige Blumen präsentieren
unterschiedliche Stärken aufweisen.
Wir dürfen von unserem verdeckten Kartendeck beliebig viele Karten ziehen und aufdecken. Allerdings gibt es auch böse Karten darunter, und wenn wir beim Aufdecken die dritte böse Karten gezogen haben, ist zwangsweise Schluss, und wir büßen danach auch noch eine unserer zwei Aktionsmöglichkeiten pro Zug ein (Potenzkarten kaufen, Bäume kaufen …).
Gegen die bösen Karten gibt es zwei Hilfsmittel: 1) gute Karten (die erst durch Nachkaufen ins Spiel kommen) und 2) Neutralisierer. Wer genug gute Karten und/oder Neutralisierer auf der Hand hat, kann u.U. sein gesamtes Kartendeck offenlegen und nutzen; das ist gegen Ende des Spiels durchaus keine Seltenheit.
Nach dem Kauf von Karten kommen entsprechend viel Flammen ins Spiel, die weggekauft werden müssen, bevor sie überhandnehmen und jeden von uns mit zusätzlichen bösen Karten überschwemmen. Das Wegkaufen hat aber auch einen Vorteil, denn es erfüllt eine der Siegbedingungen: Sobald ein Spieler zwölf Flammen oder zwölf Bäume gekauft oder in seinen aufgedeckten Karten zwölf „Heilige Blumen“ präsent hat, ist das Spiel zu Ende. Ist man der einzige Spieler, dem dies geglückt ist, so hat man gewonnen; haben mehrere Spieler zugleich dieses Ziel erreicht, gibt es Tiebreak-Regelungen. In jedem Fall bietet das Aneignen von Flammen eine große Chance zum Sieg, denn wenn die Mitspieler nicht konsequent dagegen arbeiten, fallen einem die Flammen gleich massenweise in den Schoß.
Die „Bäumestrategie“ kann man hingegen mehr oder weniger ungestört von den Mitspielern fahren, es sollten sich nur nicht zu viele Spieler um die wenigen Karten mit hohem Bäume-Potential streiten. Und natürlich sollten die eigenen Potenzkarten mit Baum-Potential öfters mal in glücklicher Kombination auftreten.
Wer auf die „Heiligen Bäume“ setzt, ist absolut davon abhängig, dass am entscheidenden Zeitpunkt zum Spielende seine Blumenkarten alle rechtzeitig auftauchen, bevor die bösen Karten ihm einen Strich durch die Rechnung machen. Ein gewisser Vorrat an Neutralisierern kann hier das Zünglein an der Waage spielen.
Bleibt noch der Kreiskurs zu erwähnen, auf dem wir optional unser Schrittepotential abwickeln können. Wir landen dabei jeweils auf Feldern, die uns erlauben, eine der Standardaktionen (Potenzkarten kaufen, Bäume kaufen …) durchzuführen. Dann ist es natürlich ein gefundenes Fressen, wenn wir in einer Kategorie gerade besonders viele starke Karten gezogen haben und dann die zugehörige Aktion einmal als Standard und ein zweites Mal via Kreiskurs ausführen dürfen.
Das ist eigentlich schon Genug des Vorteils, sich über den Kreiskurs zu bewegen. Wer bei seinem Vorwärtsgehen aber auch noch einen Mitspieler überspringt, darf ihm eine Siegpunkt-Bonuskarte klauen. Pfui! Musste das sein?? Erstens ist Klauen unethisch und chaotisch und zweitens ist damit eine böse Tür zur Kingmakerei geöffnet. Das hatte „Living Forest“ nicht nötig.
Es ist ein schönes Spiel, alles funktioniert, alles ist rund. Viele spielerische Elemente sind zu einem harmonischen Gesamtwerk zusammengefügt. Es gibt keine Sackgassen, für alle problematischen Situationen sind Weichmacher eingebaut. In unseren Aktionen haben wir haben viele Freiheitsgrade und können dabei mehrere grundsätzlich verschiedene Schienen fahren. In den Augen eines jugendlichen Hausmanns- und Vielspieler, der mehr als nur anspruchslose Famlienspiele des Jahres spielen möchte (aber auch solche), ist „Living Forest“ ein angenehmes Exemplar in seiner Sammlung.
Die geschmäcklerischen alten Westpark-Gamers haben dazu aber noch eine andere Sicht.
WPG-Wertung: Aaron: 5 (ich habe das Spiel jetzt 5 mal gespielt, dabei kam es mir von Mal zu Mal uninteressanter vor; die Rumzählerei macht keinen Spaß, auf die Siepunkte der anderen zu achten ist lästig, und das Klauen im Kreiskurs absolut unschön; der Wiederspielreiz scheint mir nicht allzu hoch zu sein), Günther: 5 (die Möglichkeiten für Kingmakerei sind negativ; dass wir am Ende immer alle dicht beieinander landen, ist wohl zu viel Symmetrie und Nivellierung im Spielablauf geschuldet), Moritz: 4 (durch den Zufall der Karten beim ersten Ziehen ist fast schon die Schiene vorgegeben, in der man sich entwickeln muss. Der Feuermechanismus ist interessant, sonst kaum noch was. Es gab wenig, über das ich hätte nachdenken können, deshalb habe ich mich gelangweilt), Walter: 6 (das Spiel ist konstruktiv und spielerisch, Zufall und Planbarkeit stehen in einem ausgewogenen Verhältnis, als alte Hasen sollten wir an diesem gefälligen sauberen Spieldesign nicht allzu scharf herumkritteln).
2. “Paris”
Zum Thema laut Regelheft: „Paris befindet sich auf dem Höhepunkt seiner Verwandlung in eine der schönsten Städte der Welt.“ Wir sind Immobilieninvestoren und dürfen dabei mithelfen.
Auf einer sehr hübschen Konstruktion einer Spielbrett-Rotunde finden wir sechs Bezirke von Paris mit je sechs Bauplätzen. Jeder Bauplatz hat eine wohlgeordnete Wertigkeit, die in jedem Bezirk gleichförmig die Werte 1 bis 5 und 8 einnehmen. Pro Zug baut jeder Spieler jeweils irgendwo auf einem dieser freien Bauplätze (kostenlos; die jeweilige Position wird vom verdeckten Stapel zufällig gezogen) ein Gebäude und schickt dann einen seiner Agenten irgendwohin auf den Weg zu einer glücklichen Investition. Er kann
- einen Agenten aus seinem Büro in das Eingangstor zu einem beliebigen Bezirk schicken. Das kostet nichts, im Gegenteil, dafür bekommt ein Spieler sogar einen nicht zu verachtenden Betrag.
- einen bereits am Eingangstor eines Gebietes stehenden Agenten auf ein freies der dort bereits gebauten Gebäude stellen. Das kostet jetzt Geld: je höherwertig das Gebäude, desto höher der Preis.
- einen bereits auf einem Gebäude stehenden Agenten auf ein höherwertiges Gebäude in demselben Bezirk setzen. Claro, dafür muss man die Differenz der Wertigkeiten bezahlen.
- den Bebauungsplan in einem Bezirk um einen – noch höherwertigeren – Sonderplatz erweitern (das kostet Ressourcen) und dann seinen Agenten daraufsetzen (das kostet nochmals Geld).
- einen Agenten auf den Place de l’Étoile setzen. Das kostet nichts und bringt auch nichts ein, aber dafür darf ein Agent später von dieser Stelle aus auf ein beliebiges freies Gebäude in einem beliebigen der sechs Bezirke versetzt werden (natürlich zum entsprechenden Preis).
Und wofür macht man das alles? Bei Spielende werden die Mehrheiten in jedem Bezirk prämiert. Dazu werden die Gebäudewertigkeiten aller Agenten eines Spielers für jeden Bezirk addiert und diese Summen mit denen der Mitspieler verglichen; wer die höchste Summe aufweist, bekommt viele Siegpunkte, der Zweite bekommt die Hälfte und der Dritte nur noch ein Viertel. Wie hoch die jeweilige Höchstprämie in jedem Bezirk ist, wird erst während des Spiels ausgekaspert, so dass nicht sogleich mit dem Spielbeginn ein Run auf die besten Plätze einsetzen kann.
Neben dem Bauplan von Paris ist das wichtige Spielelement eine Leiste von 30 Bonusplättchen. Sie gewähren Geld, Ressourcen und eine ganze Latte von weiteren Vergünstigungen, vor allem aber prämieren sie bestimmte Kombinationen von Positionen der Agenten eines Spielers mit Siegpunkten. Manche Plättchen gibt es nur einmal, wer zuerst kommt, mahlt (nicht nur zuerst sondern als einziger), manche Plättchen gibt es mehrfach, so dass sich mehrere Spieler, aber in keinem Fall alle, diese Vergünstigungen aneignen können.
In den Besitz eines Bonusplättchen kommt man, wenn man seinen Bonusmarker daraufstellt. Bewegen darf man den Bonusmarker immer dann, wenn man vorher seinen Agenten auf eines der Gebäude mit der Wertigkeit 1 bis 3 gestellt hat. Bei jeder Bewegung dieses Markers darf man ihn um beliebig viele Stellen in vorwärts Richtung versetzen. Die besten Boni gibt es am Ende, es verlockt also, so schnell wie möglich in die vordersten Regionen zu positionieren, aber danach gibt es kein Zurück mehr; es ist ein Feilschen mit sich selbst, ob man die Bonusplättchen langsam Schritt für Schritt abgrasen will oder gleich auf den dicken Siegpunktereibach am Ende zugeht.
Paris entsteht, Paris leuchtet. Wer die lukrativsten Bonusplättchen erwerben, seine Agenten en passant entsprechend positionieren und in den Bezirken bei den Mehrheiten glücklich agieren konnte, gewinnt.
WPG-Wertung: Aaron: 6 (viel zu kleinteilig, nix Schlechtes, aber der Spielablauf ist ein dröges Kucken, Rechnen, Machen), Günther: 6 (reines Mitspielerchaos), Moritz: 8 (mir gefällt die fluide Situation, es ist interessant und der Spielausgang ist offen), Walter: 5 (der ganze Zauber dreht sich finalmente ausschließlich um Konkurrenz beim Zugriff auf die besten Plättchen und um chaotisch-kingmakerische Mehrheitsbildung; zudem erfährt der Spielfluss in den letzten Runden keine dynamische Steigerung mehr, sondern er flaut – wenn die Spieler ihr Geldpulver überwiegend verschossen haben – ziemlich ab. Oder besteht gutes Spiel etwa darin, sich in den ersten drei Vierteln des Spiels bei jeder Gelegenheit mit Geld einzudecken, um damit im letzten Viertel alle Mehrheiten zu knacken? Das ist des Spielspaßes zu wenig.)