“Brettspiel sowie Malerei verlangen ein außerordentliches Maß natürlicher Begabung und liefern uns darin auch die seltsamsten Überraschungen; so mancher offenbar halb-gescheite Zeitgenosse, der zu einer nützlichen Tätigkeit unfähig zu sein scheint, kann sich als Genie im Brettspiel oder der Malerei erweisen.”
Aus “Die Geschichte vom Prinzen Genji” – aufgeschrieben vor ziemlich genau eintausend (!) Jahren.
Apropos „Genji“: Seit ich seinen Lebensroman gelesen habe, muß ich mich über unser leichtfertiges Herangehen an das gleichnamige Brettspiel (23.09.2009) schämen. Gedichte und Halbgedichte zu schreiben, die vom Empfänger mit Gedichten und Halbgedichten beantwortet werden, war in Japan eine tief verwurzelte höfische Sitte. Es gab keinen gebildeten Liebhaber, der in der Morgendämmerung das Haus seiner Liebsten verließ, ohne ihr unverzüglich ein selbstverfaßtes Gedicht zu schicken, und der daraufhin nicht ebenso unverzüglich ein Gedicht zurück bekommen hätte. Mit diesem Wissen muß man am Brettspiel “Genji” wenigstens den kulturellen Hintergrund würdigen. Verzeihung, verehrter Dylan Kirk!
1. “Mega Corps”
Andrea rümpfe die Nase, als Moritz dieses „Wirtschaftsspiel“ auf den Tisch legte. Aber er konnte sie sofort beruhigen: „Keine Sorge, es gibt auch Aggressionen. Es wird allerdings nicht gewürfelt.“ Ist das jetzt eine Einschränkung unseres kriegerischen Austobens oder eine Verstärkung?
In einem Schachbrettmuster liegen auf der X-Achse die verschiedenen Nationen (Europa, Russland, China, Japan usw.) und auf der Y-Achse die verschiedenen Industriezweige (Software, Öl, Metall, Medien, Verteidigung, Biotech usw.). Die hauptsächliche Tätigkeit der Spieler besteht darin, beliebige X-Y-Punkte zu besetzen, d.h. z.B. eine Biotech-Industrie in Rußland zu errichten.
In unregelmäßigen Abständen werden bestimmte Industriezweige gewertet, dann bekommen die beteiligten Mitspieler für jeden Standort eine Summe von Siegpunkten. Je weniger Mitspieler sich hier engagiert haben, desto höher ist der Ertag pro Standort. Besitzt ein einziger Spieler alle 5 Standorte eines Industriezweiges, so bekommt er ganz allein stolze 50 Siegpunkte. Sind die Standorte dagegen auf 5 verschiedene Spieler verteilt, so bekommt jeder nur 4 Siegpunkte.
Die Nationen sind ebenfalls in der Hand einzelnen Spieler, doch deren Besitz ist nur von untergeordneter Bedeutung. Zu Spielbeginn werden einige Nationen asymmetrisch an einige Spieler verteilt, andere gehen leer aus und werden dafür mit Ereigniskarten abgespeist. Man freut sich, wenn man ein paar Nationen geschenkt bekommen hat und man heuert ggf. Söldner an, um die Nationenverteilung zu verändern. Doch hinterher muß man sich fragen, ob das den Einsatz wert war. Denn bei Spielende ist der Nationenbesitz keinen Pfifferling mehr wert. Als Regierungschef kann man lediglich einen Zug opfern, um ein Unternehmen aus dem eigenen Lande zu weisen (in einer Demokratie), um es zu verstaatlichen (in der Diktatur) oder um es selbst in Besitz zu nehmen (in einer Kleptokratie). Doch diese Besitzwechsel-Effekte bringen einem Spieler nicht viel mehr ein, als wenn er auf friedliche Weise einen beliebigen freien X-Y-Punkt auf dem Spielbrett belegt.
Was sich hier noch ein bißchen planbar liest, ist in Wirklichkeit absolutes Mitspielerchaos. Dazu tragen besonders die Ereigniskarten bei. In jeder Runde darf der Startspieler eine davon ziehen und zu einem beliebigen Zeitpunkt einsetzen. Z.B. darf man damit einem Mitspieler einen Industriestandort ersatzlos wegnehmen (was dem Opfer natürlich sehr peinlich ist), oder man kann für einen Industriezweig eine Sonderwertung auslösen (was für den Auslöser natürlich sehr erfreulich ist), und ähnliche starke bis krasse Effekte. Damit wird die konsequente Planung von Industriemonopolen nahezu torpediert.
Unser heutiger Sieger konnte kurz vor Schluß mit einer Ereigniskarte einen ganzen Industriezweig an sich reißen und zweimal dafür abkassieren: einmal regulär und einmal in der Schlußwertung. Allein mit diesen zwei Wertungen machte er ungefähr sowie Punkte, wir alle anderen Spieler am Ende jeweils aufwiesen.
Doch dieser unberechenbare Ablauf war vom ersten Augenblick an vorhersehbar. Wir ließen uns schnell auf das Chaos ein und füllten Haus und Garten des öfteren mit schallendem Gelächter. Zumindest die erste Stunde lang. Dann wurde das Lachen schlapper. Es ist nicht so leicht, anspruchsvolle Kunstgenießer zweieinhalb Stunden bei Laune zu halten.
WPG-Wertung: Aaron: 3 („Das Spiel ist nicht ausgegoren.“), Andrea: 5 (fand es ganz lustig. „Das Spiel hat einige gute Ansätze.“) , Hans: 4 („Man kann (immerhin) verschiedene Schwerpunkte setzen. Offensive Aktionen sind aber nicht kalkulierbar, zu teuer und zu wenig lohnend.“), Moritz: 4 („Die Ereigniskarten sind ein totaler Scheiß. Der Sieg sollte nicht nur über die Industrien, sondern auch über den Nationenbesitz vergeben werden.“), Walter: 4 („Ein Zeitvertreib im Sinne von Zeit Totschlagen, keiner im Sinne von Vergnügen und Zerstreuung.“)
2. “Glen More”
Ein Kontrastprogramm zu „Mega Corps“: alles ist planbar, jeder Spieler hat mit jedem Zug sein Schicksal selber in der Hand.
Auf einer Rundlaufbahn liegen Landschaftsplättchen aus (Dorf, Wiese, Wald etc.) und jeder Spieler darf sich jeweils ein beliebiges davon nehmen und in seine eigene Landschaftsauslage einfügen. Jedes Plättchen bringt Vorteile, entweder an Resourcen (z.B. Stein, Holz, Getreide, Fleisch) oder an Produktionsstätten (Jahrmarkt, Krämerei, Metzgerei, Destille), wo Rohstoffe in Geld oder Siegpunkte verwandelt werden.
Die Spieler sind aber nicht reihum am Zug, sondern nach einem sehr interessanten Mechanismus darf jeweils der Letzte innerhalb des Rundkurses ziehen. Wenn z.B. noch Landschaftsplättchen zwischen ihm und dem vorletzten Spieler liegen und er mit minimaler Schrittweite vorwärts geht, darf er sogar mehrmals hintereinander ziehen.
Hier herrscht also für jeden Spieler das gegenläufige Interesse, sich das beste Plättchen ganz vorne unter den Nagel zu reißen gegenüber einem langsamen Abgrasen vieler mäßiger Plättchen am Ende des Rundlaufes. Doch damit das Abgrasen nicht allzu ausufert, wird jedes Plättchen a priori mit 3 Minuspunkten bestraft. Man sollte demnach seinen Plättchenbesitz möglichst minimieren und sich nur solche Plättchen zulegen, die es auch bringen. Dieses Spannungsfeld macht den ganzen Reiz des Spiels aus.
Es gibt sehr viele Siegpunktquellen und entsprechend viele Spielweisen, sie sich zu erschließen. Fitzelig ist die Planung, fitzelig die Einnahmen und die Wertungen, und fitzelig die Von-der-Hand-in-den-Mund-Optimierung. Erst das Spielende zeigt, wie gut man im Rennen liegt bzw. gelegen hat. Aber spielerisch-konstruktiv war es auf jeden Fall ein Vergnügen.
WPG-Wertung: Aaron: 6 („Man wird gespielt,“), Andrea: 6 („Caylus ist ähnlich in der Entwicklung, aber anspruchsvoller und planerischer“), Hans: 5 („Die verschiedenen Strategien ermöglichen keine grundsätzliche Differenzierung. Jeder spielt so vor sich hin.“), Moritz: 6 („Das Spiel enthält viele hübsche Ideen.“), Walter: 6 („Es fehlt eine dynamische Steigerung der Wertungsefffekte zum Spielende hin.“)
3. “Bluff”
Gleich als erste Vorgabe begann Andrea mit 5 mal Stern. Das ist bei 25 Würfeln unter den Bechern von 5 Mitspielern deutlich über Schnitt. Moritz zweifelte an und mußte 2 Würfel abgeben. Andrea begann wiederum mit 5 mal Stern und Moritz sprang diesmal gleich auf 7 mal Stern, ohne einen einzigen Stern und dem Becher, und obwohl die Wahrscheinlichkeit dafür doch geringer war als vorher. Warum das?
Er wollte die vorletzte U-Bahn erreichen! Was ihm auch auf Anhieb gelang.
Keine neue WPG-Wertung für ein Super-Spiel.