“Macht auf, ihr lieben Kinder, eure Mutter ist da und hat jedem von euch etwas mitgebracht!” sagte der Wolf, als er bei den sieben jungen Geißlein an die Tür klopfte. Aber die Geißlein hörten an der rauen Stimme, dass es der Wolf war. “Wir machen nicht auf”, riefen sie, “du bist unsere Mutter nicht, die hat eine feine und liebliche Stimme; aber deine Stimme ist rau, du bist der Wolf!” Da ging der Wolf fort zu einem Krämer und kaufte ein großes Stück Kreide, die aß er und machte damit seine Stimme fein.
Nach Wikipedia bezeichnet die „Kreide“ hier wohl „Kirschkreide“, im Preußischen eine Bezeichnung für Kirschmus, das möglicherweise – ähnlich wie Honig – Heiserkeit lindern soll. „Kreide fressen“ bedeutet umgangssprachlich: sich zurückhalten, sich beherrschen und Friedfertigkeit vorspielen, sich scheinbar umgänglich geben.
1. “Pax Porfiriana”
Peter hatte im Vorfeld „mal wieder etwas Klassisches“ vorgeschlagen, z.B. “Wikinger” oder “Turmbau von Babel” oder “Seeland”? Doch nach unserem Selbstverständnis sollte jeden Abend auch etwas Neues auf den Tisch kommen. So fand sich keine Gegenstimme als Moritz „zur Einleitung“ ein kleines 13 x 13 Zentimeter großes Kartenspiel einbrachte.
„Pax Porfiriana“ heißt auf deutsch „Der Frieden des Porfirio“ und ist, wie bei solchen Namen üblich, ein reinrassiges Kriegspiel. Es geht um Mexiko und den Diktator Porfirio Diaz, der um die letzte Jahrhundertwende (de facto ist es doch egal, um welches Jahrhundert es sich hier handelt) mit eiserner Hand das Land regierte, bis er in einer Revolution gestürzt wurde.
Wir sind Großgrundbesitzer, kaufen und bebauen Land, erhöhen seine Fruchtbarkeit, verbessern seine Transportwege, schützen es gegen Rebellion oder rebellieren selber dagegen, und bekämpfen ausgebrochende Revolten. Das Ganze wird über offen ausliegende Aktionskarten gesteuert, von denen wir uns pro Zug eine aussuchen dürfen: die Karten am unteren Ende kosten nichts, nach oben hin, dorthin, wo neue Karten nachgelegt werden, steigt der Preis in der Potenz von Zwei. Die Karteneffekte sind einigermaßen von gleicher Größenordnung, so dass man selten bei den teueren Regionen zugreifen muss; man kann in der Regel abwarten, bis eine Karte von selber billiger geworden ist.
Außer den Land-Kauf-Angreif-Schutz-und-Befreiungs-Karten gibt es individuelle Raub- und Zerstörungskarten (mit einer gewissen political correctness „bandits, INDIANs und strikers“ genannt), die fremdes Hab und Gut in unsere eigenen Hände bringen können (oder umgekehrt), und es gibt globale Ereigniskarten, die allen Spielern gemeinsam Schaden (meist) oder Nutzen (selten) bringen.
Schaden und Nutzen ist nicht immer eindeutig zu erkennen. Wer z.B. von fremden Revolutionären an seinem Einkommen geschädigt wurde, erhält im Gegenzug dafür „Revolutionspunkte“, die er bei politischer „Anarchie“ für seinen Sieg geltend machen kann. Banditen, Streikende und anderes Gesindel verpassen uns als Nebeneffekt „Empörungspunkte“, die wir im Falle einer „US Invasion“ zu unserem Gunsten einreichen können. Banken, Investoren und Monopolisten teilen „Loyalitätspunkte“ aus, die von der „Friedensregierung“ des Diktators Diaz persönlich honoriert werden. Regierungs- und Rebellionstruppen bringen „Kommandopunkte“ ein, die uns im Falle von „Kriegrecht“ punkten lassen.
Und wie gewinnt man das Spiel? Wer eine der vier, gegen Spielende auftauchenden Aufruhrkarten kaufen kann, und dann, abhängig von der Regierungsform „Anarchie“, „US Invasion“, „Pax Porfiriana“ oder „Kriegrecht“ in den Kategorien „Revolution“, „Empörung“, „Loyalität“ oder „Kommando“ mindestens drei Prestigepunkte mehr besitzt als in Summe die beiden Mitspieler mit den wenigsten Punkten in dieser Kategorie, der beendet das Spiel als sofortiger Sieger. Sind alle vier Aufruhrkarten durch das Spiel geschleust worden, ohne dass es zu einem Sieger gekommen ist, so gewinn der Spieler mit dem meisten Geld.
Das Spiel ist sauber komponiert und sauber ausbalanciert. Jeder gegen jeden, alle gegen einen. Viel Handlungsfreiheit, viel Chaos, viel Planbarkeit. Nicht ganz so viel Durchsetzbarkeit. Es gibt immer etwas zu tun, immer ein vages Ziel, immer eine Hoffnung, trotz vielen Aufs und Abs keinen einzigen spielerischen Engpass. Wer in einem Zug alle seine Mittel verpulvert hat, kann immerhin noch kostenlos spekulieren.
Wir lernen eine Menge über die Geschichte Lateinamerikas. Wir erfahren, dass Teddy Roosevelt, Cousins fünften Grades vom Franklin D. Roosevelt, im Jahre 1910 die US Invasion befahlt, um die „chronischen Rechtsverletzungen“ in Mexiko zu beenden. Und wir erfahren, dass die Katholische Kirche, personifiziert durch den Erzbischof Eulogio Gregorio Clemente Gillow y Zavalza, die Arbeiterbewegung und somit indirekt die Revolution unterstützte.
Wir erfahren noch 220 weitere Details aus dem politischen Leben des vorrevolutionären Mexiko, denn aus soviel Karten besteht “Pax Porfiriana”. Alle mit eigenem Text und eigenen Effekten. Und wenn wir alle studiert, verstanden, gemerkt und verinnerlicht haben, können wir noch mehr planen und vielleicht sogar noch mehr durchsetzen. Aber vielleicht ist das gar nicht das Ziel des Spiels. Drei Stunden lang aufbauen und zerstören, sammeln und zerstreuen, Mehrheiten suchen und verhindern : das ist Sinn und Zweck des Spiel.
Sein einziges Problem heute war bei uns, dass Peter eigentlich etwas „Klassisches“ wollte und Moritz eigentlich nur ein kleines Kartenspiel auf den Tisch gelegt hatte. Dass Walter daneben noch sein Privat-Problem hatte, nämlich weder fähig noch lustig war, sich auf 220 verschiedenen Spielkarten einen Reim zu machen, dass ihm schon nach dem dritten Zug die Lust am Spiel vergangen war, als Günther Rebellentruppen auf sein einziges Grundstück schickte, so dass er fünf Runden lang nichts anderes zu tun hatte, als diese wieder los zu werden, und dass der – ansonsten vorzüglich vorbereitete – Moritz die wichtige Regel übersehen hat, nämlich dass jeder Spieler auch ohne ein funktionierendes Grundstück pro Runde Einkommen erhält, das ist eine andere Geschichte. Walters Stimmung wurde nur leicht gehoben, so dass er sich ohne mentale Frustationsbefleckung die drei Stunden bis zum Ende durchschleppen konnte, als er im anarchistischen Mittelspiel UNVERSEHENS um ein Haar als Rebellenführer zum Sieger gekürt worden wäre.
WPG-Wertung: Günther: 5 (gewaltige Einschränkung schon vom Handling der vielen verschiedenen Karten her), Moritz: 8 (da steckt wahnsinnig viel drin, alles in eine so kleine Schachtel gebracht, reifes Design, Preis-Leistung stimmt), Peter: 6 (es hat was, nette Idee, dass böse Karten gute Effekte haben, leider zu lang und nichts von dem gewünschten Klassischen“), Walter: 5 (für langweilende Kriegsspieler ein vorzüglicher Zeitvertreib).
2. “Der Turmbau zu Babel”
Jetzt bekam Peter endlich seinen Klassiker. Vor zwölf Jahren vom Großmeister Reiner Knizia quasi als letztes seiner Spiele für Erwachsene erfunden und bei Hans-im-Glück herausgebracht. Das elfte „Spiel des Monats“ in unserer langen WPG-Geschichte.
Wir feilschen um Baurechte und Baubeteiligung an den sieben bis acht Weltwundern der Antike. Wir helfen unseren Mitspielern bei der Vollendung eines Bauabschnittes, und wir lassen sie dabei zuweilen auch im Regen stehen. Hilfsangebote sind gut, abgelehnte Hilfsangebote sind ebenfalls gut. Alles ist gut.
Alles ist rund, alles ist ausbalanciert, alles ist Knizia. Zu mehr Informationen verweise ich auf unseren Session-Report vom 30. März 2005.
Keine neue WPG-Wertung für ein glattes 7-Punkte Spiel. Walter überlegte kurz, einfach um den Alterstrend zu stoppen, seine bisherigen 6 Punkte auf 7 aufzustocken. Aber dafür fehlt ihm in Babylon mindestens noch eine Hure.
3. “Bluff”
Günther stand mit 2:1-Würfeln gegen Walter im Endspiel und bekam die – offensichtlich blind gewählte – Standardvorgabe einmal die Vier vorgesetzt. Nach längerem, sicherlich nicht von Bluff-Gedanken bestimmtem Überlegen setzte er auf zweimal die Drei.
Welche Würfel hatte er unter seinem Becher, wenn er damit die GEWINNchancen seines Gegners von unter 50 Prozent auf – in erster Näherung – zwei Drittel anhob?
Keine neue WPG-Wertung für ein Super-Spiel.