„Schrecklich, grauenvoll“ nannte Helmut den notgedrungen zerstörerische Umgang mit dem Spielmaterial. Da muss man doch tatsächlich ein nagelneues Spiel während des ersten und einzigen Gebrauches entsprechend den Anweisungen im Regelheft zerlegen, zerschneiden und zerkritteln, so dass selbst der Spiele-Eigentümer keine Träne mehr nachweint, wenn man die Trümmer hinterher den Flammen übergibt.
Die Experten unter uns, wissen, um welches Spiel es sich handelt. Die neugierigen Laien können in unserem Spielbericht vom 19.10.2016 nachschauen. Ich will den Spielenamen nicht nennen, weil ich den Herostrates-Effekt vermeiden will. Lieber Verbrennen und vergessen.
Jetzt aber haben die Juroren von SdJ dieses Spiel doch tatsächlich für das „Kennerspiel des Jahres 2017“ nominiert. Kann das wahr sein? – Langes Nachdenken. – Und dann kommt die Erkenntnis: Den Kennern quellen die Regale schon über mit den gesammelten Spielen ihres langen Spielerlebens. Für sie kann es doch nur eine Erleichterung sein, wenn die nächsten Spiele nach einmaligem Gebrauch regelgerecht in den Abfallkorb wandern. Ein höchst innovativer und notwendiger Trend. Die Richtung ist vorgegeben, der Startschuss gefallen. Spieleautoren und Spieleverlage, hört die Signale: das erste Gefecht soll zugleich das einzige und letzte sein!
1. “Räuber der Nordsee”
Die Szenerie ist eine fremde Küste mit Hinterland, darauf Ansiedlungen, Klöstern und Festungen. Wir sind Wikinger und wohnen in unseren räuberischen Brutstätten auf der gegenüberliegenden Wasserseite. Hier holen wir Luft, besorgen uns Mannschaft, Proviant und ein bisschen Gold (das hat schon Philipp von Mazedonien für ein geeignetes Kampfmittel gehalten), um dann loszuziehen und die friedliche Gegenseite zu überfallen, Häfen, Klöster und sonstige Ansiedelungen zu plündern und deren Hab und Gut in Form von Vieh, Eisen und Gold nach Hause zu bringen, um uns hier wieder für den nächsten Plünderungszug zu rüsten.
Um erfolgreich plündern zu können, müssen wir natürlich ausreichend stark, ausreichend viele und ausreichend versorgt sein. Das alles brauen wir uns in unseren Brutstätten nach einem Worker-Placement-Prinzip zusammen:
- in der Silberschmiede gewinnen wir Silber
- im Torhaus lassen wir uns neue Mannschaftsmitglieder gebären (M-Karten auf die Hand nehmen).
- in der Baracke heuern wir gegen Silber neue Mannschaftmitglieder an (M-Karten aus der Hand auf unser Schiff bringen). Jedes Mitglied hat eigene Eigenschaften an Kraft, Überlebensfähigkeit, Austauschbarkeit, Provisionen und anderen hübschen Effekten.
- in der Ratshalle nutzen wir die “rechts-unten” Eigenschaft einer M-Karte. Danach darf man u.a. der bösen Konkurrenz Ressourcen wegnehmen, sie zwingen, Ressourcen abzuwerfen oder eigenen Schotter gegen deren Gold einzutauschen. Mein Gott, musste das sein?!
- in der Schatzkammer tauschen wir M-Karten in Gold oder Silber ein
- in der Rüstkammer kaufen wir gegen Silber oder Eisen Stärke ein. Die Stärke hilft uns beim Plündern von Lokalitäten, sie bringt am Ende auch noch zusätzliche Siegpunkte ein.
- in der Mühle oder im Langhaus besorgen wir uns Proviant, den wir für jeden Raubzug benötigen.
Bemerkenswert ist der Worker-Placment-Mechanismus: Jeder hat nur einen einzigen Pöppel auf der Hand, den er auf die gewünschte Arbeitsstelle schickt und dort den jeweiligen Ertrag abschöpft. Anschließend gehört dieser Pöppel nicht mehr dem Spieler, der ihn gesetzt hat, sondern der Allgemeinheit.
Als Zweites darf ein Spieler, nachdem er seinen einzigen Pöppel gesetzt hat, einen beliebigen anderen der inzwischen neutral gewordenen Pöppel auf die Hand nehmen, und ebenfalls den Ertag des Arbeitsplatzes, wo dieser Pöppel stand, abschöpfen.
Alles klar und durchsichtig. Leider mit vielen Hemmschuhen belastet. Wenn z.B. die Silberschmiede besetzt ist, kann ich mir dort keine Silberlinge besorgen, um dann anschließend in der Baracke Mannschaft anzuheuern, ich muss erst meinen Pöppel auf einen freien Platz setzen, und wenn ich gerade kein Geld habe, ist die Baracke für mich tabu.
Ein klar designtes Spielelement sind auch die verschiedenen Farben der Pöppel: es gibt schwarze, weiße und graue. Sie können nicht überall eingesetzt werden, an manchen Arbeitsplätzen, vor allem auf den Raubzügen, ist genau vorgeschrieben, welche Farbe der raubende Pöppel haben muss. Da ich aber jeweils nur einen einzigen Pöppel habe, ist es zum großen Teil Glücksache, ob der gerade für die gewünschte Aufgabe tauglich ist, oder ob ich – weniger lukrative – Tempozüge machen muss, um erst in der nächsten Runde die richtige Farbe auf der Hand zu haben. Schön und tricky, aber auch lästig. Eher lästig!
Was wir in Dörfern, Klöstern usw. jeweils plündern können, liegt offen auf dem Spielbrett. Darunter gibt es auch schwarzhäutige Walküren, die einigen unserer Mannschaftsmitgliedern den totsicheren Todeskuss aufs Auge drücken. Als Gegenleistung lassen sie uns dann aber auch Siegpunkte zurück. In der Anfangsphase ist eine Walküre deutlich kontraproduktiv. Hier lieber ein Walküren-Hafen auslassen und auf ein Walküren-freies Kloster hinarbeiten. Erst später, wenn man ohnehin in Mannschaftsmitgliedern schwimmt, bringt eine Walküre nur Wonnen. Selbst der Tod eines Mannschaftsmitgliedes (manches!) kann positive Früchte tragen.
Und wer gewinnt? Wer den Häuptling am meisten beeindruckt! Und womit? Mit Siegpunkten natürlich! Ran ans Plündern! Nach gut zwei Stunden ist das friedliche Feindesland bis zur Endebedingung leergeplündert.
WPG-Wertung: Aaron: 6 (bis 5, der Ressourcen-Mechanismus ist unnötig sperrig, Einschränkung weil zu lang), Günther: 6 (hätte nach den Beschreibungen im Internet mehr erwartet, am Ende keine Steigerung), Horst: 6 (ein paar hübsche Spielelemente, aber nur eine bescheidene Spannungskurve), Walter: 5 (bis 6, kaum Interaktion, das einzige, was einem in die Quere kommt, sind die geplanten Regelmechanismen. Er ist von den der Vielfalt der individuellen Effekte der hunderttausend Mannschaftskarten überfordert. Allerdings wieder einen obligatorischer Sympathiepunkt für das runde Design).
2. “Flamme Rouge”
Zum Absacken noch schnell ein Radrennen. Walter baute in Windeseile einen Parcours auf, aber leider mit gravierenden Fehlern: die sehr kurzen Bergstrecken und die Bergabfahrten lagen praktisch lückenlos nebeneinander („le Puy“ war ein untaugliches Vorbild), so dass deren Effekte gar nicht richtig zur Geltung kommen konnten. Vor allem aber war der Parcours viel zu kurz. Man musste seine Kräfte nicht einteilen, keinen Windschatten ausnutzen, keine Angst vor Erschöpfung haben. Günther spielte – in naiver oder berechnender, für den Original-Parcours in jedem Fall untauglicher Manier – für seinen gesamten Rennstall jeweils die stärkste Geschwindigkeit aus und wurde problemlos Start-Ziel-Sieger.
Wenigsten bekamen Günther und Horst einen groben Eindruck von dem hübschen Rennradln.
WPG-Wertung: Der bisherige (unisono) Schnitt von 7 Punkten blieb erhalten, nur die Streuung stieg: Günther: 6 (durch den falschen Parcours hatten wir mehr Gaudi als dem Spielcharakter angemessen), Horst: 8 (das Spiel vermittelt ein Realitätsgefühl, es ist schnell und besitzt einen hohen Wiederspielreiz)