Ganztägiger Streik in der Münchener U-Bahn plus Champions-League-Spiel der Heimmannschaft: Zwei gewichtige Gründe für Moritz, zuhause zu bleiben. Doch pünktlich stand er auf der Matte am Westpark. Das Fahrrad macht’s möglich.
1. “Aarons 18xx”
Aaron ist mit seiner 18xx-Eisenbahnspiel-Entwicklung wieder ein paar Monate weiter. Inzwischen gibt es keine Aktien mehr, keine Gleise, keine Bahnhöfe und keine Züge. Wir leben ja auch bereits im 21. Jahrhundert, und heute ist der Weltraum unser Zuhause . Hier fahren wir mit unseren Raumschiffen zu den Planeten auf ihren Kreisbahnen um die Sonnen. Die Planeten bringen unterschiedliche Erträge in Geld oder Siegpunkten. Wir finden Schutzschilde für den unvermeidlichen Krieg im All, Treibstoff für größere Beweglichkeit und Eisen zur Steigerung der Erträge. Den aktuellen Stand von Aaron’s Design wollten wir heute mal wieder unter die Lupe nehmen.
Herzstück des Spiels ist ein Verdrängungs-Versteigerungs-Tableau a la „Amun-Re“, in dem wir uns das Gebiet ersteigern, auf dem wir uns entwickeln wollen: Mehr Raumschiffe, größere Reichweiten oder stärkere Schutzschilde stehen zur Auswahl. Wer aus allen Gebieten heraus in astronomische Höhen verdrängt wird, begibt sich in die Bank und kassiert dort als Trostpreis die Hälfte der eingezahlten Gelder. Man braucht dafür aber nicht erst zu warten, bis die Gebote der Mitspieler unsere pekuniären Mittel überschreiten, man kann auch sofort in die Bank gehen und dort warten, bis der Geldsegen früher oder später herabfällt. Und dabei ist jede müde Mark einen ganzen Siegpunkt wert. Diese geldige Strategie unterläuft den harten Kampf um die optimale Ressourcen-Entwicklung, die scharfe Planung der optimalen Routen und die tödlichen Auseinandersetzungen auf den Planetenbahnen. Analog zu unseren Erfahrungen mit dem „kalten Herzen“ von letzter Woche bekam dieses passive Vorgehen den Namen „Bethaus-Strategie“.
Walter fing mit dieser Strategie an, und Moritz äußerte sofort und lautstark die Vermutung, daß dies wieder eine uneinholbare Siegesstrategie werden könnte. Günther lies sich dies nicht zweimal sagen; unverzüglich ging er ab sofort mit seinem jeweils ersten Zug zur Bank und überließ den Kriegern Aaron und Moritz den Weltraum, sowie Walter das Nachsehen. In Minutenschnelle hatte er auf der Siegpunktskala schwindelnde Höhen erklommen und die Siegbedingungen erfüllt.
Aaron hätte gerne noch ein bißchen länger gespielt und getestet; dafür wollte er jetzt die Siegpunkt-Bedingungen in die Höhe schrauben. Dazu schlug Günther vor: „Wir spielen so lange, bis Moritz mich überholt hat!“ – Schallendes Gelächter. Die Bethaus-Strategie war einfach nicht zu überbieten. Die fehlende Balance war nicht zu übersehen. Unverzüglich machten wir umfangreiche Änderungsvorschläge.
a) Das Geld aus der Bank darf nur innerhalb von Versteigerungen eingesetzt werden, aber nicht in Siegpunkte umgewandelt werden. Zumindest nicht im Verhältnis 1:1.
b) Die Raumschiffe müssen nicht in jeder Runde vom Nullpunkt aus eingesetzt werden, sondern sie behalten nach jeder Runde ihre aktuelle Position und können sich so Schritt für Schritt den lukrativen Zirkeln um das Schwarze Loch nähern.
Alle hatten Lust zu einem neuen Versuch.
Jetzt fing blitzschnell der Verdrängungskampf um die besten Plätz an. Nicht mehr das Geld aus der Bank und nicht mehr die Reichweite waren gefragt, jetzt zählten die Schutzschilder, die – wie in der richtigen Militär-Terminologie – weniger der Verteidigung dienten, sondern viel mehr dem Angriff. Mit einer entsprechenden Stärke konnte man leicht die inneren Planetenbahnen von allen Gegners leerfegen.
Doch auch viele schwächere Raumschiffe auf den billigen Plätzen konnten reichlich Siegpunkte einbringen. Ganz unvermutet hatte sich eine zweite Schiene für den Sieg aufgetan. Und sicherlich gibt es noch mehr davon. Das Spiel gewann an Farbe und Dynamik. Es gab einen Blick auf seine Potenz frei.
Natürlich gibt es noch genügend zu feilen. Das Amun-Re-Verdrängungstableau braucht eine quadratische Skala, damit der Versteigerungsprozess nicht so lange dauert. Die Weltraum-Topologie ist zu durchlässig. Jeder kann jeden erreichen und – sofern stärker – vernichten. Jeder Spieler sollte um sein Startfeld herum eine Heimat-Zone haben, in die kein anderen Spieler hineindarf, sonst könnte einem ins Hintertreffen geratenen Spieler vorschnell der Lebensfaden abgeschnitten werden. Hier sollte er auch ganz private Verteidigungschilde auflesen dürfen, um eine Mindestausrüstung zu haben, wenn er hinaus muß ins feindliche Leben.
Das größte Problem ist allerdings noch die Tendenz zur Kingmacherei. Jeder kann sich gegen jeden wenden und damit ganz willkürlich entscheiden, welcher der Gegenspieler eine Menge Siegpunkte verliert. Das konterkariert eine gute strategische Planung. Doch auch dafür werden wir, vor allem Aaron, noch eine Lösung finden.
Noch keine WPG-Wertung für ein Spiel in der Entstehungsphase.
2. “Small World”
Es war schon 23 Uhr und eigentlich mußte Moritz schon auf die vorletzte U-Bahn schielen. Doch weil gestreikt wird, war dieses Kriterium heute nicht relevant. Wir konnten uns problemlos noch mit den allerneuesten Expansions zu diesem von uns hochbewerteten Spiel um Völkerschlachten beschäftigen.
Es gibt ein paar zusätzliche Rassen und Eigenschaften, und vor allem gibt es Ereigniskarten, die in jeder Runde die vorhandene Szenerie beeinflussen: z.B. dürfen bestimmte Landschaftsfelder nicht erobert werden, Pöppel sterben oder kommen hinzu, und dergleichen Schnickschnack mehr.
In der Startaufstellung lagen die Ghouls, die auch als sterbene Rasse ein erhebliches Punkte-Potential in sich tragen, gleich auf dem vordersten Platz, und die erste Ereigsniskarte lautete: „In der nächsten Runde bringt das aktive Volk nichts ein.“ Was lag für den Startspieler näher, als sich die „Ghouls“ unter den Nagel zu reißen und sie in der zweiten Runde gleich sterben zu lassen? Zwei Fliegen mit einer Klappe! Gedacht, getan. Jetzt lagen die „Kobolde“ im Angebot, die mit ihrer enormen Population ein hohe Überlebensdauer haben. Noch dazu waren sie mit „Geschichtsschreibern“ kombiniert, die für jedes sterbende Volk pro Runde einen zusätzlichen Siegpunkt einbrachten, in der Regel also fünf Stück. Das war ein Anfangsreibach, den sich der Startspieler natürlich nicht entgehen lassen konnte. Und der auch sofort die Neider auf sich zog.
Nach unserem WPG-Kodex ist es zwar verpönt, gegen den Führenden zu stänkern, doch in „Small World“ muß dies zweifellos erlaubt sein. Wenn man nicht lautlos und verbissen um seine zeitlichen Jagdgründe kämpfen will, dann ist doch grade die Demagogen-Diplomatie eine wesentliche Freudenquelle des Spiels. Nicht selber gegen den Führenden zu kämpfen, sondern die anderen gegen ihn kämpfen lassen, und sich selber wie ein unschuldiges Lamm auf den fetten Weiden zu tummlen, das bringt die entscheidenen Pfunde. Walter war der glückliche Startspieler, der meilenweit davonzog, vom Unschuldslamm Moritz aber auf der Zielgeraden noch überholt wurde.
Fazit: Neue Rassen und die Ereigniskarten erhöhen zwar die Vielfalt der Spielausprägungen, doch sie bringen keine neue Qualität. Eigentlich müßten sie ganz scharf mit ALLEN anderen Rassen und Eigenschaften ausbalanciert sein, damit das Spiel nicht aus dem Ruder laufen kann, insbesondere zu Gunsten des Startspielers. Diese Balance scheint nicht sicher gewährleistet.
Keine neue WPG-Wertung für ein 8-Punkte-Spiel.
3. “Bluff”
Nein, kein Bluff mehr. Die vorletzte und die letzte U-Bahn wären ohnehin schon abgefahren gewesen, wenn sie nicht wegen des Streiks überhaupt ausgefallen wären. Aaron brachte Moritz mit dem Auto nach Hause. Dort kann er sich im Internet noch die Traumtore von Müller und Klose anschauen. Gegen Roma.